Meistgelesen 2022Wie ein Mietverhältnis am Brüsseler Platz in Köln eskaliert

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Die ehemaligen Bewohner Julia O., Daniel H. und Carolin O. am Brüsseler Platz.

Die ehemaligen Bewohner Julia O., Daniel H. und Carolin O. am Brüsseler Platz.

  • Eineinhalb Jahre lebte eine Sechser-WG in einer Wohnung am Brüsseler Platz. Eineinhalb Jahre, die aus Streitereien, Vorwürfen, verteiltem Müll und Fäkalien, Polizeieinsätzen und Gerichtsverfahren bestanden.
  • Was als alltäglicher Streit zwischen Mietern und Vermieter beginnt, eskaliert, als W. selbst in die WG einzieht.
  • Wie konnte es so weit kommen?
  • Dieser Artikel ist zuerst am 10. Mai 2022 erschienen.

 „Ich habe danach erst gemerkt, wie sehr mich das psychisch belastet hat“, sagt Carolin O. „Ich bin froh, dass ich endlich mit all dem durch bin“, sagt Daniel H. „Ich weiß nicht, wie ich das so lange ausgehalten habe“, sagt Julia O.* Carolin, Daniel und Julia stehen auf dem Brüsseler Platz in Köln. Es ist für einen Aprilabend schon ungewöhnlich warm, das Hallmackenreuther hat seine orangefarbenen Stühle rausgeräumt. Kinder spielen auf dem Spielplatz im Schatten von St. Michael, aus dem Kiosk an der Ecke wird flaschenweise Kölsch getragen. Wenn Carolin den Blick hebt, kann sie in eines der Fenster ihrer alten Wohnung blicken. „Jemand hat in meinem alten Zimmer Vorhänge aufgehängt“, sagt sie.

Am Ende steht ein Urteil: W. ist der Körperverletzung schuldig

Eineinhalb Jahre haben die Kölner zusammen mit drei weiteren Mitbewohnerinnen als Wohngemeinschaft in einer der beliebtesten Gegenden der Stadt gewohnt. Eineinhalb Jahre, die sich in ihrem Gedächtnis als dunkle Episode eingebrannt haben. Wenn sie in ihrer Erinnerung zurückspulen, stoßen sie auf Szenen von Streitereien, Vorwürfen, auf Bilder von Fäkalien auf der Toilette, auf Polizeieinsätze, Gerichtsverfahren und einstweilige Verfügungen. Auf der einen Seite des Streits standen die Mieter um Carolin, Daniel und Julia. Auf der anderen ihr Vermieter, Wolfgang W. (Name geändert) Beim Gedanken an ihn sagt Julia: „Ich bin immer noch wütend.“

Die ehemaligen Bewohner Julia O., Daniel H. und Carolin O. am Brüsseler Platz.

Noch immer beschäftigen die drei die Vorkommnisse in der WG.

Am vorläufigen Ende der Eskalationsspirale, die im August 2020 begann, steht ein Urteil. 50 Tagessätze á 50 Euro muss Wolfgang W. zahlen. Der Richter des Amtsgerichts Köln hat ihn im März 2022 für schuldig befunden – der Körperverletzung an seiner ehemaligen Mieterin und späteren Mitbewohnerin Julia O.

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Wie aber konnte ein zunächst normales Wohnverhältnis in Köln so eskalieren?

Eine Wohnung in Köln, doppelt so teuer wie der Mietspiegel

Eine Wohnung mit mehr als 100 Quadratmetern in bester Kölner Lage wird neu vermietet. Vermieter W. gehört das gesamte Haus, im Erdgeschoss befindet sich ein Ladenlokal. Für die sechs Zimmer der Wohngemeinschaft gibt es jeweils einen eigenen Mietvertrag. Kostenpunkt: 590 bis 750 Euro. Pro Zimmer. Zum Vergleich: Der aktuelle Kölner Mietspiegel liegt für Wohnungen in „sehr guter Wohnlage“, die bis 1975 bezugsfertig wurden, bei einer Größe von um die 120 Quadratmeter bei 9,60 Euro pro Quadratmeter.

Auch wenn der Mietspiegel laut Rheinischer Immobilienbörse die aktuellen Kölner Werte immer nur annähernd abbilden kann – auf die ganze Wohnung gerechnet ist die Miete wohl doppelt so teuer gewesen, wie es der Mietspiegel für vergleichbare Objekte errechnet.

Selbst für Köln, selbst für das Belgische Viertel, ist das ein astronomisch hoher Preis. Die Bewohnerinnen und Bewohner waren bereit ihn zu bezahlen.

W. will sich nicht zu den Vorwürfen äußern

Zu vielem anderen allerdings waren sie nicht bereit. Es begann mit kleineren Unstimmigkeiten. Und schaukelte sich zu einem wahren Kleinkrieg hoch. Gerne hätte der „Kölner Stadt-Anzeiger“ den Vermieter Wolfgang W. zu den hier geschilderten Vorwürfen selbst zu Wort kommen lassen. Auf eine Anfrage mit der Bitte um Stellungnahme reagierte er allerdings umgehend mit einem anwaltlichen Schreiben – und dem Versuch, die Berichterstattung zu verhindern. Wörtliche Zitate von ihm in diesem Text entstammen einzig dem Gerichtsverfahren.

„Wir waren uns am Anfang eigentlich ganz sympathisch“, sagt Carolin O. „Wir hatten einen guten Eindruck von ihm, waren per Du.“ Lange hielt die Harmonie nicht an.

Kölner Vermieter verlangte Übernahme der nicht fertig renovierten Wohnung

Noch vor dem Einzug verlangte der Vermieter eine Übernahme der Wohnung im „Ist-Zustand“. Heißt: Noch vor Abschluss aller Renovierungsarbeiten sollte vereinbart werden, dass alle Arbeiten, die nach dem Einzug noch anstünden, von den Bewohnerinnen und Bewohnern bezahlt werden müssen. Sollte diese Vereinbarung nicht akzeptiert werden, könne der letzte, bereits ausgesuchte Bewohner – Daniel H. – nicht mehr in die Wohnung einziehen. In der WG war man damit nicht einverstanden.

Die ehemaligen Bewohner Julia O., Daniel H. und Carolin O. am Brüsseler Platz.

Lange haben sich Julia O., Daniel H. und Carolin O. gegen ihren Vermieter gewehrt.

Zurecht, sagt Lars Middel, Kölner Anwalt für Mietsachen, der den Fall für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ noch einmal geprüft hat. „Der Vermieter kann nicht im Nachherein verlangen, dass die Mieter einen mangelhaften Zustand hinnehmen müssen“, sagt er. „Vielmehr erhält der Vermieter die monatliche Miete dafür, dass er den Mietern eine mangelfreie Wohnung zur Verfügung stellt.“ Die WG weigerte sich erfolgreich, der Vermieter fand auf die Schnelle keinen anderen Bewerber. Daniel H. zog ein.

„Jetzt gibt's Krieg“

Zu einer Eskalation schwang sich die erste Unstimmigkeit dann durch eine Waschmaschine auf. Der Vermieter habe der WG erklärt, in der Wohnung dürfe kein eigenes Gerät aufgestellt werden – stattdessen hätte er eigens für sie im Keller ein Münzgerät angeschafft. Ein Waschgang dort kostet sechs Euro. „Die anderen Mieter haben ihre Waschmaschinen alle in der Wohnung stehen“, so Julia O. „Wir haben das nicht eingesehen.“ Nach Absprache mit einem Anwalt habe man sich dazu entschieden, selbst eine Waschmaschine in die Wohnung zu stellen. „Der Vermieter kann eine Waschmaschine nicht untersagen“, erklärt Hans-Jörg Depel vom Kölner Mieterverein. „Die Mieterinnen und Mieter müssen sie nur bei Beendigung des Mietverhältnisses wieder entfernen.“

Dass die WG sich seiner Anweisung entzog, passte Wolfgang W. offenbar gar nicht. „Jetzt gibt’s Krieg“, soll er im Wortlaut gesagt haben. Immer wieder schickte W. fristlose Kündigungen an diverse Bewohner per Textnachricht. Allerdings: „Eine SMS oder andere Nachrichten über Chatportale wie Facebook oder Whatsapp genügen nicht der Anforderung an die Schriftform (§126 BGB)“, sagt Anwalt Middel. „Die Kündigung ist allein aus diesem Grund unwirksam.“ Die WG ignoriert die Nachrichten, will möglichst wenig in Kontakt mit W. treten.

W. behielt einen eigenen Schlüssel zur Wohnung am Brüsseler Platz

Das ist allerdings nicht leicht. Denn Wolfgang W. hat einen Schlüssel zur Wohnung behalten. Unter dem Vorwand, Arbeiten durchzuführen oder beaufsichtigen zu müssen, betrat er laut Aussagen der WG immer wieder unangekündigt die Wohnung. Zu Unrecht, wie Middel erklärt, schließlich sei eine angemietete Wohnung ein geschütztes Gut. „Damit hat jeder das Recht auf Privatsphäre und freie Gestaltung seines Lebens innerhalb der Wohnung.“ Der Vermieter dürfe die Wohnung ohne weiteres weder angekündigt noch unangekündigt betreten – genau das soll Wolfgang W. laut der WG aber mehrfach getan haben.

Da er den Schlüssel auch auf mehrmalige Aufforderung nicht herausgab, ließen die Bewohner und Bewohnerinnen das Schloss austauschen. Die Kostenübernahme durch den Vermieter will die WG am Amtsgericht erstreiten, das Verfahren läuft.

„Er ist nur in die Wohnung gezogen, um uns zu schikanieren“

Vor Gericht sollten sich Wolfgang W. und die WG noch häufiger begegnen. Im Sommer 2021 eskaliert die Lage endgültig. W. besitzt nach dem Schlosswechsel eigentlich keinen Zugang mehr zur Wohnung. Den Auszug einer Bewohnerin nutzt der Vermieter aber dazu, selbst in die WG „einzuziehen“. Ab diesem Zeitpunkt ist das Zusammenleben von täglichen Streits und mehreren Polizeieinsätzen geprägt. Die von der WG aufgegebenen Anzeigen liegen dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor, Anzeigen vonseiten W.s gibt es nicht.

„Dass ich in die Wohnung eingezogen bin, hat persönliche Gründe“, sagt Wolfgang W. vor Gericht. Mehr will er dazu nicht sagen. Klar ist nur: W. lebt eigentlich mit seiner Familie ein Stockwerk unter der WG. „Er ist nur in die Wohnung gezogen, um uns zu schikanieren“, vermutet Julia O. W. habe in der Wohnung weder übernachtet, noch das bezogene Zimmer wohnlich eingerichtet. Stattdessen sei er zwei bis drei Mal am Tag in die Wohnung gekommen. Vor Gericht schilderte sie das Zusammenleben mit Wolfgang W. folgendermaßen:

Ein Psycho-Terror, vor dem die WG letztlich floh

„Es war ein Psycho-Terror. Er hat angefangen, alles zu verdrecken, mit Fäkalien und mit Müll. Einmal hat er einen Schuh von mir in die Toilette geworfen. Es war einfach ein herablassendes, Macht ausübendes Verhalten.“ Fotos von Verunreinigungen liegen der Redaktion vor. W. streitet die Vorwürfe ab, spricht aber selbst von einem „zerrütteten Verhältnis“. Auch Julia O. habe das Mietverhältnis „nicht harmonisch gestaltet“, sagt W.s Anwalt. „Wir haben uns einfach nicht alles gefallen lassen“, erwidert Carolin O.

Der Brüsseler Platz mit dem Portal der Kirche St. Michael im Belgischen Viertel. In unmittelbarer Nähe liegt die alte WG.

Der Brüsseler Platz im Belgischen Viertel. In unmittelbarer Nähe liegt die alte WG.

Auch nicht, dass W. mehrfach die Zimmer einiger Mitbewohnerinnen ohne Erlaubnis betreten haben soll. Wenn ihm niemand antworte, könne er jedes Zimmer betreten, soll W. gesagt haben. Anwalt Middel sieht das anders: „Bei verbotener Eigenmacht des Vermieters, zum Beispiel bei rechtswidrigem Betreten der Wohnung, sollte sofort eine einstweilige Verfügung durch das Amtsgericht beantragt werden.“ Genau das haben die entsprechenden Bewohnerinnen auch getan. Das Kölner Amtsgericht sprach Betretungsverbote aus. Der Zugang zur Wohnung konnte W. unterdessen nicht verwehrt werden – er war ja nun selbst zum Mieter geworden.

„Dass der Vermieter mit einzieht, habe auch ich noch nicht gehört“, sagt Hans-Jörg Depel vom Mieterverein. Und hält das ohnehin für eine ungute Konstellation. „Wenn man in einer Wohnung lebt, sitzt man einfach zu nah aufeinander. Irgendwann endet so etwas in körperlichen Auseinandersetzungen.“

Richter hält Julia O. für „völlig glaubhaft“

Am 17.12.2021 sitzt W. am Morgen in der Küche der WG, will laut Schilderung seines Anwalts die Zeitung lesen. Dazu habe er das Licht eingeschaltet. „Er hat ständig überall das Licht an- und die Türen aufgelassen“, sagt Julia O. Auch in den anderen Räumen, auch an diesem Morgen. Sie steht auf, schaltet das Licht im Flur wieder aus. W. schaltet es wieder ein. O. wieder aus. Schließlich stehen beide vor dem Lichtschalter. Er brüllt sie an, sie solle das lassen. „Dann hat er mir mit der flachen Hand auf den Unterarm geschlagen“, sagt O.

Sie ruft die Polizei, erstattet Anzeige. Im März 2022 folgt das Urteil, der „Kölner Stadt-Anzeiger“ ist im Gerichtssaal dabei. Der Richter hält die Schilderungen von Julia O. für „völlig glaubhaft“. „Es ist Blödsinn, dass Sie das Zimmer aus persönlichen Gründen bezogen haben“, so der Richter. „Sie haben nicht gesagt, warum aus Ihrer Sicht das Verhältnis zerrüttet war – wohl, weil es so war, wie die Zeugin es geschildert hat.“ 

„Der Vermieter hat sich in vielen Punkten absolut unrechtmäßig verhalten. Er hat sich sogar teilweise strafbar gemacht“, sagt Anwalt Lars Middel. Betroffenen rät er generell, übergriffige Vermieter in die Schranken zu weisen, statt das Handtuch zu werfen und auszuziehen. Die Bewohner der WG haben das versucht. Doch irgendwann sind sie erschöpft.

Kölner WG bereut ihre Gegenwehr nicht

Ende Dezember ziehen alle verbleibenden Mitbewohnerinnen und Mitbewohner aus der Wohnung aus. Daniel H. wohnt nun allein, Carolin O. und Julia O. teilen sich zu zweit eine Wohnung. In die Konfrontation gegangen zu sein, bereuen alle auch einige Monate nach ihrem Auszug nicht.

„Es hat sich trotzdem gelohnt, sich einzusetzen“, sagt Julia O.

„Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass er verurteilt wurde“, sagt Daniel H.

„Wir mussten das einfach machen. Es geht um Gerechtigkeit“, sagt Carolin O.

* Ein Teil der ehemaligen Bewohnerinnen arbeitet mit Klientinnen und Klienten im sozialen Bereich, ihre vollen Namen werden daher nicht genannt.

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