20 Grad vorhergesagtBeim Spazierengehen am Wochenende wird es eng in Köln

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Beliebtes Ausflugsziel: Menschen spazieren am Decksteiner Weiher in Köln.

Köln – Ja, wo laufen sie denn? Diese vor rund 40 Jahren durch den Humoristen Loriot berühmt gewordene Frage wird man sich an den kommenden Tagen nicht stellen müssen, wenn in Kölner Grünanlagen fast mehr Beine als Bäume zu sehen sein werden. Prognostizierte Temperaturen von annähernd 20 Grad dürften auch die hartnäckigsten Couch-Potatoes vom Sofa reißen, was den Gesamteindruck allerdings ein wenig verfälscht. Anmerkung der Redaktion: Bitte achten Sie auch beim Spaziergang im Freien auf die geltenden Corona-Regeln und Mindestabstände.

Denn nicht erst jetzt, mit zweistelligen Zahlen auf dem Thermometer, sind hiesige Parks und Weiher-Ufer so bevölkert wie früher die Schildergasse. Schon seit Wochen hat man den Eindruck, als hätten Kölnerinnen und Kölner sich vor allem eines vorgenommen: die Sohlen ihres Schuhwerks  gründlich abzulaufen. Spazierengehen ist das neue Happening.

Es bedarf keines Anlasses

Nun hat man schon immer - mehr oder weniger bedächtig - ein Bein vors andere gesetzt und ist spaziert. Neu an dieser kollektiven Rückkehr zur Langsamkeit ist die Grundlosigkeit. Es bedarf nicht des Besuchs der Schwiegermutter, nicht des Anblicks der unaufgeräumten Wohnung. Man bricht vielleicht nach dem Essen zu einer Verdauungsrunde auf, aber man tut es genauso vorm Frühstück. Es braucht keinen Anlass.

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Spaziergänger bevölkern die Stadt: Spaziergehende Menschen am Rheinauhafen

Die Menschen tun es bei Sonne, aber im Gegensatz zu früher auch bei grimmig grau verhangenem Himmel, bei Nieselregen, auf Matschwegen, bei Frost, bei Dunkelheit. Sie tun es im Blücherpark, im Stadtwald, am Höhenfelder See und am Kalscheurer Weiher. Sie tun es schweigend, schwätzend, beschwingt, bedächtig, gestikulierend, händchenhaltend, Coffee-to-go trinkend, Kinderwagen schiebend, schlendernd, eingehakt und völlig losgelöst. Und sie tun es vor allem in einem Tempo, das der Jogger aus den Augen verloren hat: langsam.

Die Welt im Schnelldurchlauf

Die Antwort darauf, weshalb das so ist, könnte kaum jemand anschaulicher geben, als die Regisseurin und Schauspielerin Elke Schmid, die zugleich als Trainerin für die Kunst des Gehens fungiert. „Ich denke, je schneller du gehst, desto mehr nimmst du nur das Hässliche wahr. Wenn du langsam gehst, also wie beim Flanieren, transformiert sich Vieles auch in was Schönes, oder du entdeckst plötzlich was Schönes in Kleinigkeiten, die du so gar nicht siehst“, sagte die Berliner Begründerin der „Écoleflaneurs“ kürzlich in einem Interview.

Familie Fühlinger See

Raus in die Natur: Eine Familie steht am Fühlinger See im Kölner Norden.

„Die Parks quellen über“, bestätigt ein Mann, der sich schon seit vielen Jahren wissenschaftlich mit der Promenadologie, der Spaziergangswissenschaft, beschäftigt und für dieses exotisch klingende Fach einen Lehrstuhl an der Kunsthochschule in Kassel innehat. Gehen ist so alt wie die Menschheit, sagt Professor Martin Schmitz in einem Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Interesse am Gehen nimmt seit 2006 zu

Dann wurde es mehr und mehr durch andere Bewegungsformen verdrängt, die den Menschen schneller von A nach B brachten. Aber es ist keineswegs so, als hätten erst Corona-Viren und Lockdowns kommen müssen, um das Spazierengehen aus seinem Dornröschenschlaf zu reißen.

Bereits seit 2006, so Schmitz, nimmt das Interesse am Gehen laufend zu. „Es ist einfach so, dass wir in einer nie da gewesenen Mobilität leben.“ Nie zuvor hätten sich so viele Menschen preiswert um den Globus bewegen können, was zu einer veränderten Wahrnehmung geführt habe: „Die Welt im Schnelldurchlauf.“ Mit Ausbruch der Pandemie sei das „zack vorbei" gewesen.

Die Verhässlichung der Welt wahrnehmen

Weil viele Leute aufgrund des mutmaßlich höheren Ansteckungsrisikos den Öffentlichen Personennahverkehr meiden, werde nun in einem viel größeren Maße „die einfachste Art des Fortbewegens" wiederentdeckt. „Man begibt sich aus dem Homeoffice hinaus in seine eigene Umgebung und sieht dort oft zum ersten Mal Dinge, die man bisher nicht wahrgenommen hat.“ Manch einer hätte sich bisher doch besser auf Mallorca ausgekannt, als im Umkreis seines Zuhauses, witzelt Schmitz.

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Jahrzehntelang habe das das Gehen in der Gestaltung unserer Welt keine Rolle gespielt, betont der Wissenschaftler. Und nun interessierten wieder mehr Menschen für die reale analoge Umwelt. „Ich kann mir vorstellen, dass viele dadurch jetzt auch die Verhässlichung unserer Welt wahrnehmen“, mutmaßt der Mann, der dringend dafür plädiert, dem Fußgänger mehr Bedeutung beizumessen. Sein Urteil in Bezug auf Köln: „Ich finde es zum Teil ganz furchtbar, wie am Ring versucht wird, vier Verkehrsarten nebeneinander unterzubringen.“

„Die meisten Kölner Plätze ganz furchtbar“

Die Kölnerin Anne Grose gehört ebenfalls zu denjenigen, die die Stadt gerade neu entdecken. Als Sprecherin der Kölner Ortsgruppe des bundesweit agierenden Lobbyverbands „Fuss e.V." ist ihr Fortbewegungsmittel unschwer zu erraten. „Selbst in den letzten Winkeln“ sei sie bei ihren Streifzügen auf ganz viele Menschen gestoßen, erklärt die Fußgängerin, die sich immer wieder über zugestellte Gehwege ärgert und die meisten Kölner Plätze „ganz furchtbar“ findet.

Auch aus Goses Sicht wird der „Fußgänger zu wenig wahrgenommen“ und verdient mehr Beachtung. Ihrer Ansicht nach müsste die Stadt „mehr auf den Menschen ausgerichtet werden, als auf den Autofahrer und den Konsumenten.“

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