Vier Jahre nach dem Starkstrom-UnfallWie ein junger Kölner sein neues Leben meistert

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Junger Mann mit Ingwer-Tee im Café

Jona Reckers, hier vier Jahre nach seinem Starkstrom-Unfall, lag 2019 wochenlang mit schwersten Verbrennungen im Klinikum Merheim.

Jona Reckers streifte 2019 mit Freunden abends über das Bahngelände in Klettenberg und stieg auf einen Waggon. Die Folgen waren verheerend.

Meine heutige Begegnung auf der Luxemburger Straße ist eine, die mich richtig glücklich macht; denn sie zeigt, dass selbst dann, wenn das Leben völlig zerstört und vorbei zu sein scheint, (fast) alles wieder gut werden kann. Jona lacht. Das einzige, was ihn momentan nervt, ist das Handbike, bei dem wieder mal die Elektronik streikt. Wenn es zum Hersteller nach Großbritannien geschickt werden müsste, wäre der 22-Jährige monatelang ohne sein Haupt-Fortbewegungsmittel und müsste wieder das tun, was er nach eigenen Worten hasst: Rollstuhlfahren.

Kölner Bürgersteige verlangen ihm viel Kraft ab

Er hasst es, weil es ihm – vor allem auf Kölner Bürgersteigen – so viel Kraft abverlangt. Und natürlich ist der Rollstuhl mit ein paar Sekunden eines Abends im Juni 2019 verbunden, in dem er buchstäblich aus dem Leben gerissen wurde. Der Unfall vor vier Jahren, als er mit Freunden über das Bahngelände in Klettenberg streifte, dort auf die Plattform eines stehenden Waggons stieg und in dem Moment, als er sich aufrichtete – ohne die Hochspannungsleitung zu berühren – einen Stromschlag erlitt, „ist fast nicht mehr präsent“, sagt er.

Er erinnere sich nicht daran, wie es passiert sei, erklärt der junge Mann, der anschließend wochenlang aufgrund schwerster Verbrennungen im Klinikum Merheim lag und danach wegen der durch den Sturz erlittenen Querschnittslähmung in einer Spezialklinik für Wirbelsäulenverletzungen behandelt wurde. (Der Kölner Stadt-Anzeiger berichtete).

„Zuvorkommend, freundlich und hilfsbereit“

Dass er das Unglück überlebte, erscheint rückblickend wie ein Wunder. Während der Kölner heute im Café 333 sitzt, in seinem Ingwer-Tee rührt und von seinen Plänen, Zielen und Aktivitäten spricht, ist das Bild von einem querschnittsgelähmten jungen Menschen komplett ausgeblendet. 

Jona weiß inzwischen genau, was er an Köln hat, und was nicht. Da sind zum einen die Menschen: Durchweg „zuvorkommend, freundlich, hilfsbereit“. Und da ist Köln als Rollstuhlfahrer-Terrain mit seinen schrecklich abschüssigen Bürgersteigen, „wo man voll gegenlenken muss“, was enorm kraftaufwendig sei und immer zu einer einseitigen Belastung führe. Dabei betrachte Jona das Ganze aus der Perspektive eines fitten Rollstuhlfahrers, der seine Arme bewegen und seine Hände benutzen könne. Grundsätzlich schreckt ihn der Gedanke an kaltes Wetter und Regen. Mehr anziehen zu müssen, sei immer lästig. 

„Ich denke nicht mehr drüber nach, dass es anders sein könnte“

Danach gefragt, wie stark der Unfall für ihn noch immer präsent ist, sagt Jona, dass er zwar jeden Tag mit den Konsequenzen dieses einen Moments lebe. „Aber ich denke gar nicht mehr darüber nach, dass es anders sein könnte.“ Irgendwann wechsele das von „Folge des Unfalls“ zu „mein neues Leben“. Und um mit diesem neuen Leben umgehen und weitermachen zu können, „musste ich meine neue Position annehmen“. Trotzdem gebe es immer wieder Momente, in denen er sehr direkt mit seinem Schicksal konfrontiert werde – etwa, „wenn etwas nicht klappt“.

Susanne Hengesbach

Susanne Hengesbach

Mitglied der Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ seit 1985. In ihren knapp 38 Dienstjahren interessierten sie immer wieder Geschichten von und über Menschen – ungewöhnliche wie auch alltägliche...

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Das mit dem Nicht-Klappen muss gar nichts mit ihm zu tun haben. Der Aufzug am Neumarkt zum Beispiel funktioniere grundsätzlich nicht. Wichtige andere Haltestellen hätten gar keinen Fahrstuhl, aber noch erschreckender sei die Tatsache, dass er an einem Knotenpunkt wie dem Barbarossaplatz überhaupt keine Chance habe, aus der Linie 18 zu kommen. Mit einzelnen Stufen – sei es in Form von hohen Bürgersteigen oder Eingängen in Geschäfte oder Lokale – hat er sich arrangiert. Das kriegt er hin. Aber bei mehreren Stufen ist er auf Hilfe angewiesen.

„Die Leute fragen nicht und hören nicht zu“

Und da liegt die nächste Hürde. Es sei nicht so, dass einem in Köln Hilfe verwehrt würde, eher im Gegenteil. Die Leute machten zu viel. „Sie fragen nicht, was man braucht, und sie hören auch nicht zu, was man sagt.“ Es sei alles nett gemeint, und dennoch teilweise übergriffig. Am Ende bleibe das Gefühl, „entmündigt worden zu sein, weil jemand in deine Mobilität eingreift und etwas macht, was du nicht beeinflussen kannst.“

„Wie macht man es richtig?“, frage ich. Das Beste sei immer, wenn jemand frage: „Benötigst Du Hilfe?“, anstatt einen unaufgefordert irgendwohin zu wuchten.

Im Hörsaal der Uni wie auf dem Kino-Sperrsitz

Ein weiterer Knackpunkt sei die Uni, die einerseits mit Inklusionsfreiheit werbe, aber in so gut wie keinem Vorlesungssaal Rollstuhlfahrer einbinde. Das führe dazu, dass er, BWL-Student im zweiten Semester, mangels eigenem Pult meist mit dem Laptop auf dem Schoß in der allerersten Reihe sitze und – wie auf dem Sperrsitz im Kino – zum Dozenten hochblicke. Anschließend quälen ihn Nacken- und Rückenschmerzen.

Jona ist glücklich darüber, so viel Sport machen zu können. Er hat mit dem Rudern angefangen. Er ist im Otto-Maigler-See getaucht. Er macht eine besondere Form von Rugby und wird bald auch Basketball ausprobieren. Was ihn total begeistert, ist die Förderung im Neurologisch Interdisziplinären Behandlungszentrum (NIB) an der Stolberger Straße. „Das kann ich nur jedem Rollstuhlfahrer empfehlen“.

Eine Auflistung von Behinderten-WCs

Neben seinem Studium und dem Sport hat Jona angefangen, sich gemeinsam mit seinen – zum Teil ebenfalls auf den Rollstuhl angewiesenen – Freunden um Lebenserleichterungen zu kümmern. Sie haben beispielsweise mit einer Auflistung begonnen, wo sich in der Stadt tatsächlich nutzbare Behinderten-Toiletten befinden.

Bestehende Angaben darüber seien oft falsch oder zumindest nicht zuverlässig. Vielfach würden solche WCs in Lokalen – weil wenig benutzt – als Lagerraum umfunktioniert und seien gar nicht zugänglich. Es gebe jedenfalls keine wirklich verlässlichen Quellen, das wollen sie ändern.

Jona kann allein in einer Wohnung leben, aber natürlich stehen ihm Hilfen zu. Was und wie viel genau, erzählt er, wisse er erst, seitdem er sich richtig in das Thema reingefuchst hat. Inzwischen versteht er gut, dass andere in seiner Situation schon beim Antragstellen aufgeben oder erst gar nicht versuchen, die ihnen zustehenden Hilfsmittel einzufordern.

Seit kurzem ist der angehende Betriebswirt mit seinen Freunden dabei, ein Konzept auszuarbeiten, das auch anderen Menschen helfen wird, die Hürden zu nehmen, die er bereits überwunden hat. Wenn aus der Geschäftsidee ein Unternehmen geworden ist, werden wir wieder Kaffee trinken – oder Ingwer-Tee.

Was erzählen Menschen, wenn man sie anspricht und zum Kaffee einlädt? Dieser Frage geht Susanne Hengesbach, Redakteurin des  „Kölner Stadt-Anzeiger“, in Köln regelmäßig nach. Ihre Gesprächspartner und -partnerinnen findet sie unter anderem in der Fußgängerzone.

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