Kölner Chefarzt Manfred LützBettler vor dem Supermarkt sind uns unangenehm? Zu recht!

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Bettler auf der Straße sind in Köln ein häufiges Bild.

  • Der Kölner Chefarzt und Bestseller-Autor Manfred Lütz ist für seine scharfzüngige Meinung deutschlandweit bekannt.
  • So wettert er unter anderem gegen den Fitness-Kult und Diät-Sadismus. Aber der Psychiater gibt in seinen Büchern auch bewegende Einblicke in die Welt von Süchtigen, Depressiven und Schizophrenen.
  • In seiner KStA-PLUS-Kolumne „Wahn und Sinn – das ganze Leben” antwortet Lütz jede Woche auf eine von Lesern gestellte Sinnfrage – diesmal zum Thema Betteln.
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Vor meinem Supermarkt um die Ecke sitzt oft eine Frau, die um ein paar Münzen bettelt. Sie ist freundlich und unaufdringlich. Trotzdem fühle ich mich irgendwie belästigt. Und dann heißt es ja manchmal, man solle dieses System mit dem Appell ans (schlechte) Gewissen der Passanten nicht unterstützen. Was meinen Sie?

Schon Immanuel Kant war der Auffassung, dass man die Moralität einer Handlung aufs Spiel setzt, wenn man sie um der dankbaren Augen einer Bettlerin willen tut. Die Calvinisten, und aus dieser Tradition lebte von Ferne auch Kant, lehnten ohnehin solche direkten guten Werke ab. Sie halfen mit großem Engagement, aber sorgten dafür, dass sie die Effekte ihrer Hilfe nicht zu sehen bekamen. Sie gründeten daher gut organisierte große Institutionen, in denen Arme und Bedürftige „vernünftig“ betreut wurden. Emotionen sollten keine Rolle spielen. Es ging um die reine moralische Pflicht, um die „praktische Vernunft“. Friedrich Schiller, der Kant sehr schätzte, hatte mit dieser Radikalität seine Probleme. Er dichtete humorvoll:

„Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.“

Zur Person Manfred Lütz

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Manfred Lütz, geb. 1954, ist Psychiater, Psychotherapeut und katholischer Theologe. Der frühere Chefarzt des Kölner Alexianer-Krankenhauses ist auch Mitglied im Päpstlichen Laienrat.

Der Bettler an der Kirchentür, dem man eine milde Gabe gibt, das war eher ein „katholisches“ Bild. Offensichtlich ringen bei Ihnen da unbewusst die alten calvinistischen und katholischen Haltungen miteinander. Ich hatte mir für solche Fälle immer eine Haltung zurechtgelegt, mit der ich über diese unangenehmen Gefühle hinwegkommen wollte. Ich sagte mir, ich spende ja für gute Zwecke, wo ich auch weiß, dass es wirklich Bedürftige erreicht. Aber bei so einer Bettlerin weiß ich nicht, ob die nicht von der Sorte ist, von der man mitunter in der Zeitung liest, wo der obdachlose Bettler ein Vermögen hinterlässt.

Ich habe mich damit beruhigt, dass es wohl eher die verschämten Armen sind, die meine Hilfe benötigen. Doch dann habe ich von meiner Frau gelernt, die Armen versucht, etwas zu essen zu kaufen und dabei auch ein Gespräch mit ihnen führt, was viel wertschätzender ist, als nur Geld zu geben. Das mache ich nun manchmal, viel zu selten allerdings.

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Der Auschwitz-Überlebende Jehuda Bacon hat mir von einer berührenden Geschichte des israelischen Literaturnobelpreisträgers Samuel Agnon erzählt: Da ist ein Mann, so Agnon, „der hat nur einen Mantel und in der Tasche des Mantels hat er ein paar Münzen. Von Ferne sieht er einen bekannten blinden Bettler. Soll er nun die Hand aus der Tasche nehmen, in die Kälte, und ihm die Münzen geben? Er führt mit sich einen inneren Dialog, und als er bei dem Bettler ankommt, gibt er ihm die Münzen nicht.“ Darauf sagte Bacon zu mir: „Und was ist Agnons nächster Satz? »In diesem Moment existierte Gott nicht. Er war nur in den Augen des blinden Bettlers.« Das ist ein fürchterlicher Satz.“

Es gibt Momente unseres Lebens, wo wir existenziell gefordert sind. Und das kann eine zufällige Begegnung sein, auch vor einem Supermarkt.

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luetz-kolumne@dumont.de

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