Kölner Gymnasium zeigt Schüler anWarum Klassenchats zum Problemfall werden

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Wegen der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole im Chat von Kölner Gymnasiasten ermittelt die Polizei. Symbolbild: Lino Mirgeler 

Wegen der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole im Chat von Kölner Gymnasiasten ermittelt die Polizei. Symbolbild: Lino Mirgeler 

  • Schüler eines Kölner Gymnasiums sollen in einer WhatsApp-Gruppe rechtsextreme Symbole verbreitet haben.
  • Bundesweit gibt es immer wieder Fälle, in denen Klassenchats in den Fokus der Polizei rücken.
  • Experten warnen, dass im Internet eine Unrechtskultur entstanden ist, mit der Kinder und Jugendliche allein gelassen würden.

Köln – 13. Dezember 2019, ein Freitag. Bei der Kriminalpolizei Köln, Abteilung Staatsschutz, geht eine Strafanzeige wegen der Verbreitung von verfassungswidrigen Symbolen ein. Es soll sich um Bilder handeln, die den Holocaust lächerlich machen, verbreitet in Chats auf dem Messengerdienst „WhatsApp“. Bilder, die Adolf Hitler glorifizieren und Witze über Anne Frank machen. Ein anderes Bild soll einen Schwarzen zeigen, der ein Hakenkreuz-T-Shirt trägt. Dazu der Spruch „Integration gelungen“.

Die mutmaßlichen Täter sind keine bekennenden Rechtsextremen, keine Neonazis, die sich in geheimen Gruppen organisiert haben. Es sind Jugendliche. Alle um die 14 Jahre alt, Schüler der Erzbischöflichen Liebfrauenschule, ein katholisches Gymnasium in Lindenthal. Die Anzeige hat die Schulleitung selbst erstattet.

Sechs Tage später wendet diese sich in einem Brief an alle Eltern. Man sei „beunruhigt“, heißt es in dem Schreiben, das dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt. Die Größe der Gruppe, wegen der man die Polizei informiert hatte, sei nicht abzuschätzen. Der Staatsschutz überprüfe die Schwere der Vergehen und entscheide dann über das weitere Vorgehen. Schulische Sanktionen würden nach den Weihnachtsferien folgen. Zusätzlich wird an alle Eltern appelliert, das Gespräch mit ihren Kindern zu suchen.

Es klingt nach einem extremen Fall. Nach einem potenziellen Skandal. Das Ausmaß allerdings offenbart sich erst, wenn man über die Liebfrauenschule hinaus blickt.

BKA durchsuchte bei Schülern

März 2019: Ein Elftklässler eines Essener Gymnasiums soll ein kinderpornografisches Bild auf WhatsApp verschickt haben. Die Polizei erstattet Anzeige.

April 2019: Die Polizei in Stuttgart beschlagnahmt 24 Handys von Schülern. Es gab Hinweise auf kinderpornografisches Material in ihren Unterhaltungen.

Juli 2019: In Leonberg ermittelt die Polizei gegen fünf Gymnasiasten, die verfassungsfeindliche Bilder und pornografische Inhalte in den Klassenchat gesendet haben sollen. Unter anderem darunter: ein Bild von einem Maschinengewehr, zusammen mit der Aussage: „Löst bis zu 1800 Asylanträge pro Minute.“

Oktober 2019: Der MDR berichtet, dass sich das selbstgedrehte Video des Attentäters von Halle in einigen Klassenchats verbreitet habe.

Oktober 2019: Ein Duisburger Schüler wird suspendiert, weil er bei WhatsApp gegen eine Lehrerin gehetzt hatte.

Oktober 2019: Mitarbeiter des Bundeskriminalamts durchsuchen 21 Wohnungen in elf Bundesländern und beschlagnahmen Handys und Computer. Die mutmaßlichen Täter sollen Kinderpornos über WhatsApp verschickt haben. Etwa ein Video von einer Vergewaltigung eines zehnjährigen Kindes. Viele der Verdächtigen, heißt es später auf der Pressekonferenz, hätten sich überrascht gezeigt, dass die Handlungen strafbar sind. Alle von ihnen waren im jugendlichen Alter. Die Videos hatten sie mit Smileys kommentiert.

Dezember 2019: An einer Mittelschule im Kreis Passau werden innerhalb von wenigen Wochen mehrmals kinderpornografische Bilder verschickt.

Neues Jugendmedienschutzgesetz geplant

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hat im November angekündigt, ein neues Jugendmedienschutzgesetz auf den Weg bringen zu wollen. Die Politikerin will Anbieter, die mehr als eine Million Nutzer haben – wie TikTok, Instagram, WhatsApp oder Snapchat – zu technischen Vorsorgemaßnahmen verpflichten, damit Kinder und Jugendliche im Netz besser vor Mobbing, sexueller Anmache und auch Kostenfallen geschützt werden. „Die Standards, die es offline für den Kinder- und Jugendschutz gibt, müssen in entsprechender Form auch online gelten. Natürlich darf einer Elfjährigen nicht der Zugang zu einer Spielhalle oder einem Pornokino ermöglicht werden“, sagte Giffey. Schutzmaßnahmen könnten zum Beispiel kindgerechte Voreinstellungen sein, die nach der Installation von Spielen und Apps getroffen werden müssen. (dpa)

Über 95 Prozent der Jugendlichen zwischen zwölf und 18 Jahren besitzen ein Smartphone, sagt eine Umfrage des Branchenverbandes Bitkom. Laut der Statistik ist das mit Abstand meistgenutzte Soziale Netzwerk in dieser Altersgruppe WhatsApp. Fast jede Klasse, sagen Experten, hat mittlerweile eine eigene Gruppe, oft ohne Kenntnis der Lehrkräfte erstellt. Das meiste, was darin passiert, sei harmlos. Es wird nach Hausaufgaben gefragt, geOMGt, geWTFt und geLOLt, schulformübergreifendes Geheimformelgechatte, was nur wirklich versteht, wer Teil dieser Generation ist. Rund fünf Prozent der Inhalte, so schätzt es Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, seien allerdings problematisch. „Ich kenne kaum eine Schule, die nicht schon Ärger mit WhatsApp-Gruppen von Schülern hatte“, sagt Meidinger.

Sicherheitsbehörden sehen Trend

Auch Sicherheitsbehörden bestätigen einen Trend: Nach ihrer bundesweiten Razzia im Oktober sagte die Leiterin der BKA-Fachstelle, man stelle seit zweieinhalb Jahren fest, dass Kinder und Jugendliche vermehrt kinderpornografische Inhalte über Soziale Netzwerke teilen und weiterleiten.

Auch die Verbreitung von rechtsextremen Inhalten durch die WhatsApp-Chats werde zumindest „gefühlt“ mehr, heißt es aus Sicherheitskreisen im Gespräch mit dieser Zeitung. Woher die problematischen Inhalte ursprünglich kommen, sei oft unklar.

Bei den verfassungswidrigen Bildchen wie an der Liebfrauenschule gibt es Theorien, dass Rechtsextreme versuchen, ihren Rassismus, getarnt als Witze, in die Gruppen von Jugendlichen zu tragen. Kinderpornografische Inhalte hingegen seien oft von Heranwachsenden selbst produziert worden. Nacktbilder von Bekannten, die unter Freunden herumgeschickt werden. Aber auch Vergewaltigungsvideos gebe es, die sich in den Gruppen verbreiten, unterlegt mit Musik oder Geräuschen, um ihnen einen „lustigeren“ Charakter zu verleihen.

Digitale Unrechtskultur

Laut der Bitkom-Umfrage geben rund 41 Prozent der Jugendlichen an, schon einmal im Internet negative Erfahrungen gemacht zu haben, der größte Teil davon stimmt der Aussage „Ich habe Sachen im Internet gesehen, die mir Angst gemacht haben“ zu.

Wie damit allerdings umgegangen werden soll, dafür hat die Erwachsenenwelt noch keine Lösung gefunden. „Was die Gesellschaft vernachlässigt hat, ist es Kindern und Jugendlichen beizubringen, was im Internet tatsächlich strafbar ist“, sagt Thomas-Gabriel Rüdiger, Cyberkriminologe am Institut für Polizeiwissenschaft. Besonders in Online-Spielen und auf Sozialen Medien habe sich eine Unrechtskultur entwickelt, ein Raum, in dem Beleidigungen und Tabubrüche die Normalität seien. „Kinder werden in diesem digitalen Umfeld sozialisiert. Diesen wird aber viel zu wenig vermittelt, dass das, was sie dort jeden Tag erleben, nicht die Regel und teilweise strafrechtlich relevant ist.“ Auch, weil Eltern und Lehrer sich in diesem digitalen Raum schlichtweg schlecht auskennen würden. Tatsächlich gibt nicht mal die Hälfte der Jugendlichen an, regelmäßig mit den Eltern über ihre Erfahrungen im Internet zu sprechen. Und jeder zweite Lehrer, das zeigen andere Umfragen, sieht sich darin überfordert, seine Schüler im Umgang mit Online-Medien zu schützen.

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Daraus ergeben sich laut Rüdiger mehrere Probleme: Die Taten sind, anders als Grenzüberschreitungen in der analogen Welt, archiviert. Ein Judenwitz auf dem Schulhof kann kaum nachgewiesen werden. Auf WhatsApp allerdings schon. Und: Wer per Chat einen verbotenen Inhalt – wie kinderpornografische Medien – zugeschickt bekommt, wird durch automatische Speicherung sofort auch Besitzer und damit mutmaßlicher Täter. „Wenn wir hier nicht durch Sensibilisierung und Aufklärung entgegensteuern“, sagt Rüdiger, „werden wir in Zukunft extrem hohe Kriminalitätsraten bei Jugendlichen sehen.“

Die Betreiber der Plattformen scheint das allerdings nur bedingt zu stören. Zwar ist WhatsApp offiziell erst ab 16 Jahren erlaubt, „kontrolliert“ wird das allerdings nur mit einem Hinweis, den man wegklicken kann. Problematische Inhalte werden erst entfernt, wenn sie jemand meldet. „Jugendliche können sich nicht dagegen wehren, verstörende Bilder geschickt zu bekommen“, sagt Meidinger.

Sowohl der Lehrerverbandschef als auch Cyberkriminologe Rüdiger plädieren für eine Überarbeitung der Medienkonzepte an den Schulen. Erwachsene müssten die Regeln vorgeben, aufklären, was in Ordnung ist und was nicht, müssten Anlaufstationen für Schüler schaffen, die sich anvertrauen wollen. „Es hilft nicht, wenn einem Kind die Nutzung untersagt wird oder wenn Erwachsene gar mit in den Chat kommen“, sagt Meidinger. „Jugendliche wollen unter sich sein, das ist in Ordnung. Wichtig ist, dass sie selbst ein Unrechtsgefühl entwickeln.“

Ingrid Schulten-Willius, die Schulleiterin der Liebfrauenschule, berichtet, so etwas versuche man bereits seit längerem: Schüler aus der Oberstufe, die die unteren Klassen besuchen und sich über Erfahrungen im Internet mit den Jüngeren austauschen. Als Konsequenz aus den entdeckten Chats wolle man nun aber ein zusätzliches Angebot schaffen. Zwei Vertreter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus wurden für Ende Januar eingeladen, um über das Thema aufzuklären. Nicht die Schüler. Sondern die Eltern und Lehrer.

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