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Raserunfall am Kölner AuenwegNach Miriams Tod – So gelingt den Eltern das Weiterleben

Lesezeit 10 Minuten
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Marita und Thomas Scheidel in ihrem Wohnzimmer vor den Fotos von Miriam. 

  • Die Studentin Miriam Scheidel starb vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall auf dem Auenweg in Köln-Mülheim.
  • Verantwortlich für ihren Tod sind zwei Raser, die sich auf der Straße ein Autorennen lieferten.
  • Wir haben mit Miriams Eltern über deren Leben mit dem gewaltsamen Tod ihrer Tochter gesprochen.

Köln – Miriams verbeultes Fahrrad steht jetzt im Gartenschuppen ihrer Eltern. Das Abi-T-Shirt, das die 19-Jährige trug, als der BMW auf dem Auenweg sie aus dem Sattel schleuderte, liegt in ihrem Zimmer. Ebenso der Rucksack, den die Studentin an jenem Tag dabei hatte – und das Deo, das der Hersteller „Glücksgefühle“ nennt. Fast fünf Jahre sind seit Miriams tödlichem Unfall vergangen. Ihre Eltern haben nichts weggeworfen.

Die ersten vier Jahre lagerten die Sachen in der Asservatenkammer der Polizei. Als 2019 endgültig das Gerichtsverfahren gegen die beiden jungen Raser beendet war, die Miriam getötet haben, mussten Marita und Thomas Scheidel entscheiden, was mit den Habseligkeiten ihrer Tochter geschehen sollte. „Vernichten kam für uns nicht in Frage“, sagt Marita Scheidel. „Das wäre uns vorgekommen wie Verrat an unserer Tochter.“

Miriams Schuhe waren noch geschnürt

Das Schlimmste seien ihre Schuhe gewesen. „Da war nichts dran, die hätte man so wieder auf die Treppe stellen können“, erinnert sich die Mutter. „Das sind so Sachen, die mich dann plötzlich wieder aus der Bahn werfen.“ Selbst die Schleifen waren noch intakt – so wie Miriam sie gebunden hatte, als sie an jenem Morgen das Haus der Familie in Höhenhaus verlassen hatte.

Hier lesen Sie mehr: Die Kölner Polizei verstärkt ihre Maßnahmen gegen die illegale Raserszene.

Der 14. April 2015 ist ein Dienstag, ein sonniger Frühlingsmorgen. Miriam ist in Eile. Sie hat Jura-Vorlesungen heute. Sie duscht, frühstückt, plaudert noch kurz mit ihrer Mutter, die sie bittet, nicht über die Deutzer Brücke und mitten durch die Innenstadt zur Uni zu fahren, sondern über die Innere Kanalstraße, da gebe es durchgängig Fahrradwege. Aber Miriam winkt ab, sagt nur etwas wie: „Ach Mama, du machst dir immer so große Sorgen.“

Diesen scharfen Schmerz, der sie in den ersten Monaten nach dem Tod ihrer Tochter körperlich fast zerrissen hätte, den spüre sie inzwischen seltener, erzählt Marita Scheidel. Aber der Verlust sei bis heute greifbar, jeden Tag. „Man lebt ein bisschen wie in einer anderen Welt“, beschreibt sie. Oder vielleicht auch: in zwei Welten. „Seit Miriams Tod denken wir auf zwei Ebenen.“

Was würde Miriam dazu sagen?

Die eine sei der normale Alltag. Thomas Scheidel geht wieder ins Büro, seine Frau hält Vorträge bei „Crash Kurs“, einem Präventionsprojekt der Polizei (hier lesen Sie mehr), das Schüler für die Gefahren im Verkehr sensibilisieren will. Scheidel berichtet den Teilnehmern, was es mit einer Familie macht, wenn plötzlich jemand fehlt, aus dem Leben gerissen durch den tödlichen Leichtsinn zweier Autofahrer. „Crash Kurs“ sei auch ein Stück Trauerarbeit, sagt sie. „Mit dem Vortrag gewinne ich ein wenig die Kontrolle über meine Gefühle zurück.“ Die zweite Ebene, die das Leben des Ehepaars bestimmt, seien die Erinnerungen an Miriam. „Die Zeit mit ihr läuft parallel immer mit“, sagt Marita Scheidel. „Oft frage ich mich: Wie fände sie dies oder jenes jetzt? Was würde sie dazu sagen?“ Belastend sei das – und tröstend.

Um neun Uhr zieht Miriam ihren Rucksack an. Sie steigt aufs Rad und verabschiedet sich. Um 15.30 Uhr schickt sie ihrer Mutter aus der Uni die letzte sms. Ihr Professor, schreibt die 19-Jährige belustigt, sei immer ganz anderer Meinung als sie, das könne ja heiter werden mit der bevorstehenden Klausur.

Im Wohnzimmerschrank der Scheidels stehen Fotos von Miriam. Miriam am Strand. Miriam auf der Couch. Miriam mit ihrem Freund im Arm. Marita Scheidel zeigt Fotobücher, die sie erstellt hat. Miriam bei der Ostereiersuche im Garten. Am Esstisch mit der Familie. Lachend mit ihrem älteren Bruder, mit der Oma vor einer Hafenkulisse, mit dem Vater am Meer. „Sie hat sich leider nicht gerne filmen lassen“, sagt die Mutter. „Mir fehlen bewegte Bilder. Ich würde so gerne noch einmal ihre Stimme hören.“

In der ersten Zeit nach dem Unfall habe es ihn geschüttelt, wenn er ein Foto seiner Tochter betrachtet habe, erinnert sich der Vater. Vor ein paar Monaten dann hat er sich zwei Porträts von ihr im Büro aufgehängt, in Postergröße. „Das war immer mein Ziel, ich habe es nur nicht früher geschafft.“ Man könne allerdings nicht behaupten, betont Thomas Scheidel, dass seine Frau und er in der Vergangenheit verharrten. Es sei nur so: Andere Eltern erlebten jeden Tag Neues mit ihren Kindern. „Wir nicht. Von Miriam kommt nichts Neues mehr dazu.“

Vergebliches Warten auf die Tochter

Um 18.45 Uhr rasen die Fahrer eines dunklen BMW und eines Mercedes-Cabrio dicht hintereinander über den Auenweg. Miriam Scheidel kommt ihnen auf dem Fahrrad entgegen, sie ist auf dem Heimweg. In einer Linkskurve verliert der 22-jährige BMW-Fahrer die Kontrolle über seinen Wagen. Das Fahrzeug rutscht quer über die Fahrbahn und prallt gegen Miriams Rad. Die 19-Jährige wird ins Gebüsch geschleudert. Mit schweren Hirnverletzungen kommt sie in die Uniklinik.

In Höhenhaus sitzen Miriams Eltern und ihr Freund am gedeckten Abendbrottisch und warten. Aber Miriam kommt nicht. Antwortet nicht auf sms, nicht auf Anrufe. Um kurz vor acht biegt ein Streifenwagen in die ruhige Wohnstraße ein. Marita Scheidel sieht den Polizisten und ahnt Fürchterliches. Sie öffnet die Tür und fragt nur: „Lebt sie?“ Der Beamte antwortet: „Ja. Aber wir mussten sie reanimieren.“

Hier lesen Sie mehr: Kölner Raser-Jäger im Interview: „Wer rast, spielt leichtfertig mit dem Leben anderer Menschen“

Die ersten Jahre nach Miriams Tod setzte sich Marita Scheidel abends hin und schrieb ihre Gedanken nieder. Die ausgedruckten Seiten füllen heute zwei Aktenordner. „Ich war so durcheinander. Ich wollte Struktur in meine Gefühle bringen.“ Während sie oben im Haus am Schreibtisch saß, hörte sie die Musik, die ihre Tochter mochte: Kygo, John Legend, Echosmith, Pink, The Script. Manchmal so laut, dass es ihr Mann unten im Wohnzimmer hörte, wo er fernsah oder andere Dinge erledigte, die ihn ablenkten. Aber er ließ seine Frau gewähren. Und sie ihn.

„Oft nicht mehr die Eltern, die unser Sohn verdient“

Manche Partnerschaften zerbrechen an einer Katastrophe, wie die Scheidels sie erlebt haben. Diese nicht. „Unsere Art zu trauern, unterscheidet sich“, sagt Thomas Scheidel. „Wir nehmen gegenseitig viel Rücksicht. Anders ginge das nicht. Wichtig ist auch das gute Verhältnis zu unserem Sohn und seinem Partner“, fügt er hinzu, „auch wenn wir leider seit Miriams Tod oft nicht mehr die Eltern sind, die er verdient.“

Die Anteilnahme im Umfeld war groß anfangs. Aus losen Bekanntschaften entwickelten sich Freundschaften. Andere Kontakte wurden seltener – vielleicht hatten die anderen Angst, etwas falsch zu machen, vielleicht waren sie im Irrglauben, es müsse doch nun auch mal langsam gut sein mit der Trauer. „Es ist doch schon so lange her“, hören die Scheidels oft. „Dann antworte ich: Aber Miriam ist auch immer noch tot“, sagt die Mutter. Es klingt fast trotzig. Halt fanden die Eltern in der ersten Zeit in Gesprächen mit den Opferschützern der Kölner Polizei. Die Beamten meldeten sich regelmäßig, fragten immer wieder nach und vermittelten schließlich psychologische Unterstützung.

Hirnblutungen sind zu schwer, Miriam hat keine Chance

Im OP kümmern sich zwei Ärzteteams um Miriam. Sie hat starke Hirnblutungen erlitten. Als ihre Eltern, ihr Bruder und ihr Freund in der Klinik eintreffen, haben sie das Gefühl, dass man ihren Blicken ausweicht. Ihre Fragen kann oder will zunächst niemand beantworten. Schließlich teilt ihnen eine Ärztin mit, Miriam werde gerade operiert. Das Ausmaß der Hirnblutungen könne man aber noch nicht abschätzen. Die Mutter denkt: „Wenn sie das überlebt, ist sie nicht mehr diejenige, die wir kennen“. Gleichzeitig, wird Marita Scheidel später sagen, war sie in diesem Moment überzeugt, dass ihre Tochter sterben wird. Kurz nach Mitternacht das zweite Arztgespräch. Ein Chirurg nimmt die Eltern, den Bruder und den Freund zur Seite. Die Blutungen seien zu schwer, sagt er. „Sie hat keine Chance, das zu überleben.“ Dann darf die Familie Miriam sehen.

Neuen Mut schöpften die Scheidels in den Gesprächsgruppen des Vereins „Verwaiste Eltern“ in Köln. Der Austausch mit anderen Betroffenen tue ihnen gut, sagt die Mutter. Die Gruppe sei wie ein „Inner Circle“. Ein Kreis der Eingeweihten, zu dem niemand gehören will.

Johanna Koslowsky ist ehrenamtliche Trauerbegleiterin bei den „Verwaisten Eltern“. Sie und Claudia Jäckel haben die Gruppe geleitet, in der auch die Scheidels waren. Koslowsky, aber auch die beiden Leiterinnen der „Verwaisten Eltern“ in Köln, Claudia Coppari und Melanie Rausch, kennen das Problem nur zu gut, dass Außenstehende oft nicht wissen, wie sie auf trauernde Angehörige reagieren sollen.

Freunde und Verwandte sind unsicher im Umgang mit den Eltern

Erst kürzlich, sagt Koslowsky, habe ihr eine Mutter, deren Kind gestorben war, berichtet, ein Bekannter habe sie aufmuntern wollen mit dem Satz: „Ach komm, du kriegst doch jetzt ein neues Sofa, freu dich doch mal.“ Das sei nicht böse gemeint gewesen, ist Koslowsky überzeugt. Es war wohl eher Ausdruck purer Hilflosigkeit. Viele scheuten sich, verwaiste Eltern auf ihr Kind anzusprechen – oft aus Angst, Wunden aufzureißen. Dabei sei das fast immer falsch, sagt die Trauerbegleiterin. „Die meisten finden es gut, wenn man sie auf ihr Kind anspricht.“ Schlimm sei es, wenn dies niemand mehr tue.

Auch sie und ihr Mann hätten sich verändert seit Miriams Tod, sagt Marita Scheidel. „Das macht den Umgang mit uns nicht einfacher, das gebe ich zu.“ Sie wünsche sich, Miriam erwähnen zu können, Erinnerungen zu teilen, wenn ihr in Gesprächen danach sei – und sich sicher zu sein, dass die anderen nicht gleich dächten: „Oh Gott, schon wieder das Thema, was soll ich nur dazu sagen?“

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Auf der Intensivstation piepsen die Überwachungsgeräte. Miriams Gesicht sieht nahezu unversehrt aus. Die Augen sind geschlossen, auf der Stirn liegt ein Handtuch, ein Beatmungsschlauch ragt aus ihrem Mund. Der Vater denkt: „Ich nehme sie jetzt einfach mit und bringe sie nach Hause.“ Die Mutter denkt: „Gott sei Dank sind ihre Zähne noch heil.“ Obwohl das in diesem Moment vollkommen unwichtig ist. Aber die Situation ist so extrem, dass der Verstand nicht mehr hinterherkommt, wird Marita Scheidel später sagen. Den Mittwoch und den Donnerstag verbringen die Eltern, der Bruder und der Freund auf der Intensivstation. Am Freitag, drei Tage nach dem Unfall, stirbt Miriam, ohne das Bewusstsein noch einmal erlangt zu haben.

Raser vom Auenweg müssen ins Gefängnis

Über die beiden Männer, die ihre Tochter bei dem illegalen Autorennen getötet haben, wollen die Scheidels nicht mehr viele Worte verlieren. Das Gerichtsverfahren zog sich über drei Jahre und zwei Instanzen – am Ende musste einer der Angeklagten für zwei Jahre, der andere für eineinhalb Jahre ins Gefängnis. Miriams Eltern und ihr Bruder saßen an jedem Prozesstag als Nebenkläger im Saal.

„Das war schwer auszuhalten“, erinnert sich der Vater. Vor allem die mangelnde Einsicht der Täter setzte der Familie zu – und dass die Männer sich nie glaubhaft entschuldigt hätten. „Ich habe noch gesehen, wie der Anwalt dem einen einen Zettel zugesteckt hat, und den hat der dann einfach vorgelesen“, erinnert sich der Vater. Er wäre manchmal „am liebsten über die Tische gesprungen“. Aber das sei nicht seine Art.

Seine Frau ist überzeugt: Verglichen mit den Urteilen gegen Raser zuletzt – ein 22-Jähriger aus Moers bekam vorige Woche Lebenslang wegen Mordes – seien die Männer, die Miriam auf dem Gewissen haben, „sehr billig davongekommen“.

Wie soll es nun weitergehen? Ist so etwas wie eine dritte Ebene im Leben der Scheidels vorstellbar? So etwas wie ein Wiedersehen nach dem Tod? Miriams Vater schüttelt den Kopf. Er sei kein gläubiger Mensch, sagt er. Die Vorstellung, seine Tochter sitze auf einer Wolke, baumele mit den Beinen, schaue auf ihre Familie herab und denke: Mensch, die machen das doch eigentlich ganz prima da unten, diese Vorstellung finde er zwar „unheimlich liebevoll“. Aber seine Denkweise sei das nicht. Wer gläubig sei, ergänzt seine Frau, der könne möglicherweise Trost in dieser Hoffnung finden. „Der hat zumindest eine Perspektive auf ein Treffen in einer besseren Welt.“ Sie, sagt Marita Scheidel, habe die nicht.

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