„Was sind das für Vollbekloppte?“Auf Pilgerreise mit der Kölner Kevelaer-Bruderschaft

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wallfahrt ebertplatz

Auf Pilgerreise über den Ebertplatz: Die Kölner Kevelaer-Bruderschaft macht sich auf den Weg.

  • Seit 350 Jahren marschiert die Kölner Kevelaer-Bruderschaft das Ave-Maria murmelnd über 200 Kilometer zu Maria, „Trösterin der Betrübten“ und wieder zurück.
  • Warum tut man sich diese Tortur an?
  • Unser Autor hat die Pilger ein Wegstück lang begleitet und dabei das besondere Gemeinschaftsgefühl der Bruderschaft kennengelernt. Aber auch die Risse gesehen, die sich durch die Gemeinde der Gläubigen ziehen.

Köln/ Kevelaer – Auf der Zielgeraden hin zu Maria, „Trösterin der Betrübten“, nach drei Tagen und etwa 100 Kilometern Wallfahrt, mischt sich Weihrauchduft mit Benzingeruch. Die Jugendlichen der Kölner Kevelaer-Bruderschaft haben sich Messdiener-Gewänder über ihre Trekkingklamotten geworfen. In den Händen halten sie Fahnen und Weihrauchfässer, während sie durch die Gassen von Kevelaer ziehen, vorbei an wartenden Autos und Passanten. Ein Tross von etwa 70 Pilgern folgt ihnen Richtung Marienbasilika und murmelt das Ave-Maria.

„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“

Die Kölner Kevelaer-Bruderschaft feiert dieses Jahr ihr 350-jähriges Bestehen. Seit 1672 ziehen die Mitglieder der Bruderschaft von Köln aus los, mit Kreuzen, Gebetsbüchern und Gepäck bepackt. Einmal hin und wieder zurück, etwa 200 Kilometer in sechs Tagen. Zum Jubiläum habe ich die Bruderschaft an zwei Tagen begleitet. Warum nimmt man diese Tortur auf sich? Was gibt es den Menschen hier, von morgens bis abends das Ave-Maria betend über Bundesstraßen, Feldwege und Marktplätze zu marschieren?

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Neugierige, aber auch skeptische Blicke begleiten die Bruderschaft

Montag, zwei Tage vorher, 6 Uhr morgens vor der St. Kunibert Basilika in Köln: Michael Rind klatscht ein paar Mal in die Hände und sagt „Ich mach schon mal ein bisschen Dampf hier.“ Aus der Menge der Gläubigen setzt sich der Kreuzträger vorne ab. Der Pulk der Pilgernden reiht sich hinter ihm ein.

Auf Michael Rind hören die Menschen hier. Er ist seit elf Jahren Präfekt der Bruderschaft, so etwas wie der Vorstandsvorsitzende. Rind, fester Händedruck, in kölschem Singsang redend, ist aber mehr als nur der Repräsentant. Er ist Organisator, Kassierer und gute Seele des Vereins, den der 54-Jährige neben seinem Job im Finanz-Controlling ehrenamtlich leitet.

wallfahrt neusser str

Auf den ersten ersten Kilometern geht es für die Pilger der Kölner Kevelaer-Bruderschaft über die Neusser Straße.

Permanent ist er damit beschäftigt, Fragen der Pilger zu beantworten oder mit der Polizei zu telefonieren, die die Bruderschaft über die Innere Kanalstraße lotst, zwischenzeitlich stimmt er sich mit dem Busfahrer ab, der der Wallfahrt hinterherfährt und müde Pilger für eine Pause bei sich aufnimmt.

Begleitet werden die Gläubigen bei ihrem Auszug über den Ebertplatz und die Neusser Straße von neugierigen, verdutzten, aber auch skeptischen Blicken von Passanten. Rind ist sich bewusst, wie seine Bruderschaft auf Außenstehende wirken kann: „Im Hochsommer um 5 Uhr morgens aufstehen und Wandern gehen: Was sind das für Vollbekloppte?“ fasst er die Gedanken von wohl vielen zusammen, an denen die Bruderschaft vorbeizieht. „Da müssen wir uns nichts vormachen.“

Kölner Pfarrer Seul: „Beten mit dem gesamten Körper“

Wie viele hier hat Rind schon als Kind an der Wallfahrt teilgenommen. Auch seine Frau, die beiden Töchter und sein Enkel laufen mit. Eine familiäre Tradition also. Doch die Wallfahrt ist für die Menschen hier noch mehr als das.

Als wir über die enge Neusser Straße stadtauswärts marschieren, frage ich Pfarrer Peter Seul, was die Menschen bei der Wallfahrt suchen. Auch er läuft die Strecke nach Kevelaer mit. Sein Kirchengewand hat er gegen ein Funktionshemd eingetauscht. „Es ist eine intensive Woche, in der man in Solidarität mit der Gemeinschaft zusammen leidet. Am Ende haben wir alle kaputte Füße.“ Die Wallfahrt hat für ihn auch eine spirituelle Facette: „Es ist ein Beten mit dem gesamten Körper. Das hat etwas Meditatives.“

Skurrile Stimmungswechsel während der Kölner Wallfahrt

Auf dem Weg von Nippes heraus in Richtung Thenhoven stimmt die Wallfahrt im immer gleichen Rhythmus das Ave-Maria an. Zwei Pilger mit Stäben in der Hand geben den Takt vor. Zwischendurch werden Lieder angestimmt.

„In Gottes Namen fahren wir, zu dir Maria kommen wir. Bitt du für uns am Himmelsthron, erlang uns Gnad bei deinem Sohn.“

Zwischen den Gebetsphasen wird geplaudert und gelacht. Diese Stimmungswechsel wirken skurril: Auf der einen Seite stehen die ernsten und dunklen Zeilen der Gebete, in denen es um Gotteshingabe, um Sünden, den Tod und Erlösung geht. Auf der anderen Seite die ganz weltlichen Plaudereien: Was machen die Waden? Wie geht’s der Familie? Was hast du im letzten Jahr alles erlebt?

Die Gemeinde der Bruderschaft schrumpft

Auch ich, der sich an den Gebeten und Gesängen nicht beteiligt, werde immer wieder freundlich und neugierig von den Pilgern angesprochen. Selbst als Außenstehender fühlt man sich schnell als Teil der vermeintlich „Vollbekloppten“, selbst wenn man das Ave-Maria nicht mitmurmelt. Alle Pilger, mit denen ich rede, betonen die besondere Gemeinschaft, die sie hier finden.

Doch die Gemeinde schrumpft. In den letzten Jahren konnte man in Köln einen regelrechten Exodus aus der katholischen Kirche beobachten. Die Austritte erreichten 2021 Rekordhöhen, Termine beim Amtsgericht waren monatelang ausgebucht.

Hauptgrund dürfte der Missbrauchsskandal und dessen schleppende Aufklärung sein, die die Kirche und ihre Mitglieder seit Jahren erschüttern. Spricht man die Pilger auf die Geschehnisse in der Kirche an, wird viel geseufzt. Enttäuscht sind sie alle.

Michael rind

Der Organisator: Michael Rind von der Kölner Kevelaer-Bruderschaft.

Bei einer Rast in Nievenheim spreche ich wieder mit Michael Rind. Den Mitgliederschwund spürt er auch in der Bruderschaft. Etwa ein Drittel weniger Pilger laufen dieses Jahr mit. Klar, Corona sei ein Grund. Die „Vorkommnisse im Dachverband“ dürften aber entscheidender sein. Woher, fragt Rind, sollen die Menschen auch kommen, „wenn die Kirche 51 Wochen im Monat alles andere als Werbung macht?“

Zu den Jubiläumsgottesdiensten der Bruderschaft waren ursprünglich auch Kardinal Rainer Maria Woelki, sein damaliger Generalvikar Markus Hofmann und der für Kevelaer zuständige Bischof Felix Genn eingeladen. Nach Rücksprache mit dem Vorstand lud die Bruderschaft die Vertreter der Kirche wieder aus.

Rind über Woelki und Co.: „Fühlen uns von diesen Herren nicht mehr repräsentiert“

„Es geht in diesen Zeiten darum, sich zu positionieren. Wir stehen mit unserem Werten für die Schwachen, die Diskriminierten und die Diskreditierten ein. Und fühlen uns nach den Vorkommnissen den letzten Jahren von diesen Herren nicht mehr repräsentiert.“

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Rind wird wütend, wenn er über die Geschehnisse in seiner Kirche spricht, wirft ihr vor, die Missbrauchsfälle nicht konsequent und transparent aufzuklären und sich gegen notwendige Reformen zu sperren. „Diese Leute wollen das nicht. Die wollen mit aller Macht das System erhalten.“

Für Rind ist das Gebaren der Kirche der Hauptgrund, warum so viele Menschen aus der Kirche austreten. „Und es sind gute Leute, die sich jahrelang in den Gemeinden engagiert haben. Diese Menschen verlieren ja nicht ihren Glauben. Die sind enttäuscht von der Kirche und suchen weiterhin ein Netz. Und den wollen wir vermitteln: Das habt ihr hier.“ Seine Bruderschaft stehe allen offen, auch Geschiedenen, Homosexuellen oder Menschen mit anderen Konfessionen.

Entfremdung zwischen Gläubigen und Amtskirche mit Händen zu spüren

Eine davon ist Freya Fritsch. Auf den letzten Kilometern der Wallfahrt lerne ich die 19-Jährige getaufte Protestantin kennen. Sie wohnt in Berlin und studiert dort Biologie. Eine Freundin habe sie 2016 eingeladen, mitzulaufen. Seitdem ist sie jedes Jahr dabei, solange Corona es zulässt.

Wenn sie ihren Kommilitonen von der Wallfahrt erzählt, reagieren viele mit Unverständnis: „Die Kirche, das ist doch ein komisches Konstrukt“ würden viele sagen. Doch ihr Glaube und die Gemeinschaft in der Bruderschaft geben ihr Halt. „In der Kirche laufen viele Sachen falsch. Aber deswegen zweifle ich nicht an der Gemeinschaft, die ich hier habe. Ich war von Anfang an begeistert, wie herzlich ich aufgenommen wurde.“ Die Entscheidung, Woelki, Hofmann und Genn auszuladen, findet Fritsch richtig.

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Fast angekommen: Die Kölner Kevelaer-Bruderschaft bei ihrem festlichen Einzug in Kevelaer.

Egal, mit wem man spricht: Die Entfremdung zwischen Gläubigen und Amtskirche ist auf der Wallfahrt mit Händen zu spüren. Gleichzeitig scheint die Frustration über die Vorgänge in der Kirche die Gemeinschaft der Pilger zu stärken.

Nach dem Einzug in die Marienbasilika in Kevelaer ist die Stimmung gelöst, die Hälfte des Weges ist geschafft. Doch die Pilger haben nur wenig Zeit, sich bei Maria, „Trösterin der Betrüben“ für Blasen an den Füßen oder den Zustand in ihrer Kirche trösten zu lassen. Schon am nächsten Tag macht sich die Bruderschaft wieder auf den Weg zurück nach Köln. Am Samstagabend feiern sie dann den Einzug in die St. Kunibert Basilika, mitsamt festlichen Gewändern, Weihrauchfässern und Gebeten, aber ohne Gäste mit Bischofstiteln.  

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