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Interview

Kölner Schulleitungen
„Wir brauchen das Analoge mit Stift und Papier und ein Schulsystem für alle“

10 min
Barbara Wachten (Dreikönigsgymnasium) und Marcel Sprunkel (Gymnasium Brügelmannstraße)

Die Kölner Schulleitungen Barbara Wachten und Marcel Sprunkel im Gespräch mit dem Kölner Stadt-Anzeiger

Der NRW-Check hat den Fokus auf die Baustelle Bildung gelenkt. Eine Leiterin und ein Leiter zweier Kölner Gymnasien reden zum Schuljahresende Klartext über Leistungsdruck, zu große Klassen, zu volle Lehrpläne und das Ende der klassischen Hausaufgaben.

Wie ist die Stimmung in den Schulen am Ende dieses langen Schuljahres?

Barbara Wachten: Ich glaube, das kann man in einem Satz zusammenfassen: Wir laufen alle auf der Felge.

Zum Abschluss dieses Schuljahres hat Schulministerin Feller angekündigt, angesichts nachlassender Leistungen zusätzliche zentrale Lernstandserhebungen in Klasse 2, 5 und 7 einzuführen. Was ist Ihnen spontan in den Sinn gekommen, als sie das gelesen haben?

Wachten: Der Spruch meiner Mutter: Die Sau wird nicht fetter vom Wiegen. Ich kann immer mehr messen, messen, messen und stelle immer das Gleiche fest. Wenn ich in der Schule keine Zeit bekomme, um etwas zu verändern und um Zeit für die Kinder zu haben, dann wird das nichts mit der Trendwende.

Sprunkel: Lernstandserhebungen sind eine Schraube, an der man drehen kann. Aber man darf kritisch hinterfragen, ob das die richtige ist. Oder ob man nicht schon mit den vorhandenen Daten zu anderen Rückschlüssen kommen kann. Lasst uns doch mal die Lehrpläne endlich entschlacken, damit Lernen auch mal in Ruhe stattfinden kann.

Wachten: Nach Corona dachten wir ja alle: Das war der Knall, der dazu führt, dass wir umdenken und die Dinge anders denken. Aber nichts davon. Die Tablets sind dazugekommen, aber die Sorgen und Nöte sind geblieben

Das Entrümpeln der Lehrpläne ist eine Forderung, die Lehrkräfte, Verbände wie Bildungsforscher seit Jahren flehend, einhellig und vergeblich äußern. Aber statt Entschlackung gibt es immer nur zusätzliche Aufgaben. Warum ist das bloß so schwer?

Sprunkel: Schon die Terminologie „Lernstand“ verrät die Denke. Wir wollen in Deutschland in einem gewissen Maße quantifizieren. Schüler x ist Stufe 4 oder Stufe 5. Alles muss schön dokumentiert messbar sein. Aber was sagt das eigentlich über einen Schüler aus, wenn er am Montag in der zweiten Stunde gezeigt hat, dass er das Englisch-Ziel erreicht hat?

Wachten: Bei allem werden die psychischen Zustände und das, was die Kinder sonst noch alles jenseits von Schule zu bewältigen haben, zu wenig berücksichtigt. Sie sollen reibungslos ihr Schulpensum absolvieren in Ganztagen, die randvoll und ohne wirkliche Entspannungszeiten gestaltet sind. Dazu kommt ein großer sozialer Druck – nicht zuletzt auch durch Social Media. Wenn ich mir allein die Familienstrukturen anschaue, die sich komplett geändert haben.

Wie viele Kinder wohnen denn durchschnittlich noch in einem Haushalt mit der klassischen Kleinfamilie?

Wachten: Also ich würde sagen, nur in etwa ein Drittel unserer Kinder lebt in einem einzigen Haushalt und hat Kontinuität in seinem Leben. Das heißt ja noch nicht, dass diese Systeme funktionieren. So viele Kinder haben ein Päckchen, das sie mitbringen. Hinzu kommt die Frage, was kann ich von denen erwarten, wenn sie von einer Grundschule kommen, in der der Personalmangel so extrem ist und wo so viele Kinder mit zahlreichen Defiziten und teilweise ohne Kita-Erfahrung in der Klasse sitzen.

Perspektivisch kann einem da ja bange werden. Denn die Erstklässler, die jetzt bereits in der Kita-Zeit stundenlang vor einem ein Smartphone oder einem anderen Bildschirm sitzen und sich kaum mehr konzentrieren können, die kommen ja erst in vier Jahren…

Wachten: Das stimmt. Da sind so viele Kinder, mit denen nicht mehr gesprochen wird und denen keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt wird. Diese Kinder brauchen so dringend Aufmerksamkeit und die können wir ihnen in der Schule nicht mehr in dem Maße schenken. Wir bekommen das mit Klassenstärken von 31 Kindern schlicht nicht mehr aufgefangen.

Trotz dieser Entwicklung geht in Köln fast die Hälfte aller Kinder dann nach der 4. Klasse auf das Gymnasium. Wie geht das denn zusammen?

Wachten: Weil in NRW der Elternwille zählt – egal, was die Grundschullehrerin rät. Vielleicht drehen wir einfach mal an dieser Schraube. Aber dann werden die Politiker nicht mehr gewählt, die das abschaffen. Deshalb wird das nicht passieren. Dann wird eben lieber auf dem Gymnasium in der Klasse 6 abgeschult, wie das heißt. Das ist so bitter für die Kinder.

Sprunkel: Wir beobachten auch, dass der Druck auf die Kinder sehr zugenommen hat. In Klasse fünf erlebe ich Szenen, die ich vor zehn Jahren so nicht kannte: Da bekommt ein Kind eine Vier zurück, fängt bitterlich an zu weinen und hat Angst, die Schule verlassen zu müssen. Hier müssen Schule und Elternhaus Hand in Hand arbeiten, um den Druck aus dem System zu nehmen, der teilweise herrscht.

Wachten: Ich frage mich dann immer, warum es nicht endlich ein System für alle gibt. Wir leisten uns in einer Situation mit mangelnden personellen Ressourcen mit der Dreigliedrigkeit und den Gesamtschulen zwei Systeme parallel, die nicht miteinander funktionieren. Wenn es – wie in den allermeisten europäischen Ländern – ein System für alle gäbe, würde ganz viel Druck rausgenommen. Sowohl was den Schulformwechsel nach Klasse 4 als auch das Abschulen nach Klasse 6 betrifft. Unser Bildungssystem produziert so viele Verlierer.

Das aktuelle Schulbarometer hat ergeben, dass Lehrkräfte die Verhaltensauffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern aktuell als die größte Herausforderung betrachten. Wie erleben Sie das?

Sprunkel: Es gibt einfach zunehmende Probleme in der Konzentrationsfähigkeit. Gerade in Plenumsphasen die Konzentration auf einer Sache zu halten, ist extrem schwierig geworden.

Wachten: In einer Gymnasialklasse mit 30 Kindern oder mehr haben Sie 25, die funktionieren, aber inzwischen fünf bis sechs, die wirklich stark verhaltensauffällig sind und sehr viel Energie in Anspruch nehmen im Unterricht, über Elterngespräch bis Schulsozialarbeit. Das frisst Ressourcen, die für die anderen ja auch noch da sein müssen. Das Problem ist, dass in unseren Lehrplänen an den Gymnasien keine Differenzierung in unterschiedliche Leistungsniveaus mehr vorgesehen ist. Wenn ich nach Klasse 4 in die Dreigliedrigkeit aufteile und danach nicht weiter differenzieren kann, wird das halt schwierig. Es wird von homogenen Lerngruppen ausgegangen, die wir aber de facto an vielen Gymnasien nicht haben.

Was bräuchte es denn an Unterstützung, um das besser zu machen?

Sprunkel: Da sind wir wieder bei dem Thema „Zeit“, das ist der Dreh- und Angelpunkt. Aber das geht ja nicht, weil ich Abfrageformate einer Lernstandserhebung einüben darf oder drei Klassenarbeiten pro Halbjahr schreiben muss. Eigentlich ist die Lösung unfassbar simpel: mehr Zeit und kleinere Klassen. Das wären die Gamechanger.

Was hindert uns daran, das dann endlich zu tun?

Sprunkel: Das ist die gängige Auffassung von Bildungsideal. Gute Bildung ist dann erreicht, wenn ich sage, du hast 85 Prozent erreicht. Da gibt es den Erwartungshorizont, und der muss abgearbeitet werden. Das bringt den Kindern nur kein selbstständiges Denken bei. Wir sollen zu oft prüfen und wiegen.

In der vom Schulministerium geplanten Reform der Oberstufe soll nun endlich die Vermittlung der so genannten 4 K eine Rolle spielen: Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und kritisches Denken.

Sprunkel: Dass diese 4 K das Kernthema von Schule sein sollten, da sind sich alle einig. Aber wie soll Kreativität unter Druck wachsen – wenn ich immer nächste Woche die nächste Klassenarbeit schreiben muss?

Als ein Grund für die nachlassende Konzentration gelten Handy und Social Media. Immer mehr Schulen entwickeln daher Konzepte, um die Handys aus dem Klassenraum zu verbannen. Vor zwei Jahren war das noch nicht denkbar.

Sprunkel: Ja, da hat sich wirklich was verändert. Noch vor ein paar Jahren mussten wir mit Eltern hitzigste Diskussionen führen, als wir die Handys aus den Klassen raushaben wollte. Von wegen, wie weltfremd sind Sie denn? Inzwischen hat sich das komplett gedreht und die Eltern begrüßen das.

Schulministerin Feller hat in diesem Schuljahr auf die Entwicklung reagiert und die Schulen aufgefordert, jeweils eigene Handykonzepte zu entwickeln. Eine Vorgabe gibt es allerdings anders als in anderen Bundesländern nicht…

Sprunkel: Ich verstehe, dass hier basisdemokratisch die Verantwortung zurückgespielt wird, aber in solchen gesellschaftlich kontroversen Themen hilft uns Schulen auch manchmal eine klare Regel, so dass nicht jede einzelne Schule einzeln Diskussionen führen muss.

Sie wollen sagen: Es wird der Anschein von Freiheit erweckt, wo man sie gar nicht haben will. Aber an den entscheidenden Stellen hat man keine Freiheit.

Wachten: Das ist gut zusammengefasst. Wir könnten sehr vieles besser vor Ort entscheiden. Aber Regeln wie Kleiderordnung, Handyordnung oder Verhaltensordnung sollten einfach mal per Leitlinie festgelegt werden, damit wir keine endlosen Diskussionen mehr führen müssen.

Immer mehr Diskussionen gibt es ja auch mit Eltern. Wie erleben Sie diesen Belastungsfaktor?

Sprunkel: Die Angst vor Widersprüchen wächst. Das wird immer schwieriger, weil wir alles juristisch einwandfrei dokumentieren müssen. Wenn ich eine Ordnungsmaßnahme verhänge, kann diese mir eingefangen werden, da vielleicht etwas nicht rechtssicher formuliert ist. Gleichzeitig wird mir dann aber auch gespiegelt, dass die Entscheidung zwar pädagogisch total richtig, angemessen und zielführend sei, ich sie aber zurücknehmen muss

Wachten: Wir sollen als Schulleitung Ermessensentscheidungen treffen. Wenn wir aber nicht entscheiden können, ohne eine Doktorarbeit zu schreiben und fünf Seiten wasserdichter Argumentation, dann können wir das kaum leisten. Wir führen inzwischen Elterngespräche möglichst zu zweit, um uns abzusichern.

Die größte Herausforderung für die Schulen wird der Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Sie stellt die bislang gültigen Grundlagen des Lernens auf den Kopf. Hausarbeiten sind doch tot, weil sie jeder mit KI macht. Alles, was ohne Aufsicht passiert, wird mit KI gelöst. Wie soll Schule damit umgehen?

Wachten: Man muss das umdrehen. Alles, was geschrieben wird, muss in der Schule geschrieben werden. Klassische Hausaufgaben machen in der Tat keinen Sinn mehr. Schüler können Themen zuhause vorbereiten, dazu auch die KI befragen und lernen, sinnvolle Prompts einzugeben. Und in der Schule wird das dann bearbeitet und besprochen. Aber das ist ein weites neues Feld. Für uns Lehrkräfte, die wir unter völlig anderen Voraussetzungen das Unterrichten gelernt haben, ist das eine gewaltige Herausforderung.

Sprunkel: Eine Kollegin hat das letztens so auf den Punkt gebracht, sie sagte: ‚Ich unterstelle mittlerweile jedem Schüler, dass er die Leistung nicht selbst erbracht hat. Ich unterstelle es auch denen, von denen ich weiß, dass sie das eigentlich könnten.‘ Das ist schlimm.

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, was und wie man in Zukunft noch lernen soll. Die Entwicklung ist so schnell und revolutionär, dass der langsame Tanker Bildungspolitik nicht hinterherkommt. Andererseits hat kein Schulministerium die Zeit, darüber jetzt noch Jahre zu reflektieren…

Wachten: Stimmt. Und das Schulministerium kann übrigens auch nicht mehr Jahre überlegen, wie es mit versteckten Mobiltelefonen und KI im Abitur umgeht.

Viele Schüler haben ja inzwischen zwei Handys und geben eines davon vor Klausuren ab. Wie ist da Ihre Erfahrung?

Wachten: Manche haben auch drei. Wir haben schon bei Abiturprüfungen die Toilettenkästen abgenommen, um zu gucken, ob im Spülkasten in Flaschen versteckte Handys schwimmen. Man kommt sich vor wie ein Sheriff und ist gleichzeitig amüsiert über sich. Trotzdem erschreckt es einen selbst.

Gleichzeitig ist die Frage doch, wie und warum man in Zukunft überhaupt noch etwas lernen soll und was das mit der Anstrengungsbereitschaft macht?

Wachten: Es ist ja so leicht, wenn ich einfach nur noch auf Knöpfe drücken muss, um das zu bekommen, was ich brauche.

Sprunkel: Und da sind wir beim Stichwort Demokratieerziehung. Wenn ich die Dinge nicht mehr wirklich durchdringe, kann ich nicht partizipieren oder falle auf Parolen herein oder produziere sie selbst.

Es gibt inzwischen Lehrkräfte, die ihre Unterrichtsstunden zweiteilen: in einen digitalen Teil und einen Teil, bei dem vor Beginn des Unterrichts jedes Tablet und jedes Handy aus der Klasse verbannt wird. Komplett analoger Unterricht mit Stift und Papier als Ausweg. Lehrkräfte, die das praktizieren, berichten von einer kooperativen, konzentrierten Atmosphäre.

Sprunkel: Es braucht meines Erachtens zwingend diese rein analogen Anteile. Auch analoge Heftführung ist wichtig. Wir unterrichten an unserer Schule auch hybrid – also mit analogen und digitalen Anteilen. Für vieles ist die Digitalität ein Geschenk: Für die Binnendifferenzierung etwa, für die Motivation oder für die modernen Fremdsprachen. Aber Lesen und Schreiben müssen wir als analoge Kompetenzen schulen. Wir brauchen gerade in der Unterstufe Lesezeiten und Schreiben mit Stift und Papier.