Leben unterm DamoklesschwertKölnerin spricht über drei Leukämie-Diagnosen ihres Sohnes

Lesezeit 4 Minuten
Frau auf der Bank mit einer Tasse Kaffee

Christiane Sester hat einen schwerkranken Sohn.

Was erzählen Kölnerinnen und Kölner aus ihrem Leben, wenn man sie anspricht und zum Kaffee einlädt? Unsere Kolumne „Zwei Kaffee, bitte!“

Oft sind es kleine Dinge; Äußerlichkeiten, die mich neugierig machen, sodass ich eine fremde Person anspreche. Bei der Frau heute ist es ein Tattoo am Unterarm. „Sieht aus wie eine chemische Formel“, sage ich, ohne ahnen zu können, dass genau dort der Ausgangspunkt für eine herzzerreißende Geschichte liegt.

Christiane Sester deutet auf das oberhalb der Formel – sie steht für Dopamin – eintätowierte Datum. Es markiert den Zeitpunkt der Diagnose vor viereinhalb Jahren und den Beginn eines, hoffentlich nun endlich abgeschlossenen, Leidenswegs. Dann erzählt die 38-Jährige von der Leukämieerkrankung ihres inzwischen neunjährigen Sohnes Maro.

Kerze im Kölner Dom angezündet

Als sie und ihr Mann vor mehr als 13 Jahren im Kölner Dom auf die gerade angezündete Kerze schauten und sich sagten: „Wer weiß, wofür es mal gut ist!“, gab es noch keine Familie, auch die heute zwölfjährige Tochter Emily nicht, erzählt Sester, die inzwischen in der Nähe von Freiburg wohnt – aber ein Köln-Fan geblieben ist. Mit dem zweiten Kind schien das Glück perfekt, bis Maro eines Tages anfing, sein Bein merkwürdig anzuwinkeln und über Schmerzen beim Laufen zu klagen. „Ich hatte von Anfang an ein komisches Gefühl“, sagt die Mutter, doch sie habe nicht die Hypochonder-Mama spielen und den Teufel an die Wand malen wollen.

Rückblickend weiß man, dass alle Vermutungen in Richtung „orthopädisches Problem“ falsch waren und die Kortison-Gabe sogar fatal, weil sie die tatsächliche Diagnose „Lymphatische Leukämie“ verschleierte.

Knochenmark des Jungen zu 98 Prozent befallen

Weil die Behandlung nicht anschlug, wechseln die Sesters mit ihrem Sohn in die Freiburger Uniklinik und erfahren, dass das Knochenmark des Jungen „bereits zu 98 Prozent befallen“ ist. Ein Schock. Für die Familie war es so, als wenn „die Erde plötzlich still steht“. Man kenne solche Fälle immer nur aus der Ferne, sagt die 38-Jährige. „Und plötzlich ist man selber betroffen.“

Noch bevor ich die Frage stellen kann, ob inzwischen alles gut sei, erzählt die Mutter, wie es weitergegangen ist. Im Anschluss an die Chemotherapie gilt Maro nach Auffassung der Ärzte als geheilt. Das war im April 2021. Doch zwei Wochen vor der Einschulung kommt ein Rückschlag. Erneut Chemotherapie. Dann stellt sich heraus, dass das Kind aufgrund einer Genmutation immun geworden ist gegen jede Form von Chemo. Schlimmer noch: Die Leukämiezellen hatten sich durch diese Therapie sogar verdoppelt.

„Maro war unser Anker in der schweren Zeit“

„Oh Gott!“, sage ich. „Wie erträgt man das, woher nimmt man die Kraft?“ Sester lächelt und sagt: „Maro war unser Anker in der schweren Zeit. Er war derjenige, der uns mit seinem Lebensmut immer wieder ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat.“ Dennoch seien da natürlich die ständigen Ängste gewesen und auch die Sorge, dass die Schwester dadurch, dass sich fast alles um Maro drehte, ins Abseits geraten könnte.

Medizinisch werden andere Wege probiert – unter anderem eine Immuntherapie – und im Februar 2022 werden Maro Stammzellen transplantiert. Für die Familie beginnt damals die bisher schlimmste Phase. Weil das Immunsystem dabei komplett auf Null gefahren werde, erklärt die Mutter, die inzwischen eine Krankenschwester-Ausbildung absolviert hat, musste Maro ins Isolierzimmer und sah seine Familie nur noch mit Kittel, Mundschutz und Handschuhen. Nachts war er mutterseelenallein. Aber auch das stand er durch.

Dinge nicht aufschieben, sondern machen

Weitere drei Monate später treten plötzlich Schmerzen beim Kauen auf. Die Wange schwillt an. Christiane Sester, die im Zusammenhang mit der Krankheit inzwischen zur Expertin wurde, tippt auf eine leukämische Infiltration, ein äußerst seltenes Phänomen. Wenig später konstatieren auch die Ärzte: „Das ist es tatsächlich.“ Man führt daraufhin eine neue Art von Therapie durch, bei der dem Patienten körpereigene Abwehrzellen entnommen und im Labor mit Antigenen präpariert werden. Nachdem Maro diese Zellen im Januar wieder zugeführt wurden, „ist er in Heilung“.

Dennoch sei es ein Leben unter dem Damoklesschwert, räumt seine Mutter ein. Nach so vielen Rückschlägen habe man viel Vertrauen verloren. Seit der ersten Diagnose hat das Ehepaar so manche Kerze im Kölner Dom angezündet, auch gerade erst wieder.

„Was würden Sie Menschen in vergleichbaren Situationen sagen?“, frage ich. „Man darf Dinge nicht aufschieben, man muss sie machen.“ Wünsche, Träume nicht auf die lange Bank schieben, sondern umsetzen. Während sie das sagt, zeigt die 37-Jährige auf ein weiteres Tattoo am Arm, einen Satz von Aristoteles: „Wir können den Wind nicht verändern, aber die Segel anders setzen.“

Was erzählen Menschen, wenn man sie anspricht und zum Kaffee einlädt? Dieser Frage geht Susanne Hengesbach in ihrer Rubrik „Zwei Kaffee, bitte!“ nach.

KStA abonnieren