Immer mehr Menschen wollen sich auf ADHS testen lassen. Spielen Tiktok-Videos hier eine große Rolle – und ist das ein Problem?
Volle Wartelisten für TestungenMehr ADHS-Diagnosen in Kölner Praxen – wegen Tiktok?

Auf Tiktok teilen viele ADHS Betroffene Persönliches aus ihrem Leben. Wie beeinflusst das die steigenden Diagnosen?
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So gut wie jeder kennt das Gefühl, sich einfach nicht auf ein mittelmäßig spannendes Gespräch konzentrieren zu können. Die meisten von uns haben schon einmal ihren Schlüssel zu Hause vergessen oder schaffen es in stressigen Zeiten nicht, ihre Wohnung ordentlich zu halten. Haben wir deswegen alle ADHS?
Betroffene der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung beeinträchtigen Symptome wie starke Unaufmerksamkeit, innere Unruhe und Impulsivität dauerhaft, ob in der Schule, auf der Arbeit oder in Beziehungen. Auf sozialen Medien wie Tiktok teilen Menschen mit ADHS ihre Schwierigkeiten im Alltag, die für viele nachvollziehbar sind. Gleichzeitig explodiert die Zahl der Anfragen für ADHS-Testungen in mehreren psychotherapeutischen Praxen und Testzentren in Köln, einige haben ihre Wartelisten aktuell geschlossen. Gibt es durch Tiktok und Co. immer mehr ADHS-Selbstdiagnosen? Und ist das ein Problem?
Rodenkirchener Praxis muss ihre Warteliste für ADHS-Tests immer wieder schließen
„Natürlich kamen schon immer Patientinnen und Patienten mit dem Wunsch nach einer ADHS-Testung zu uns, aber da hat sich schon so eine Art Hype entwickelt“, sagt Claudia Brinkmann, Co-Geschäftsführerin des MVZ Köln für Psychotherapie in Köln-Rodenkirchen. Seit etwa drei Jahren merke man einen deutlichen Anstieg, schon davor wuchsen die Testanfragen stetig. Aktuell seien die Kapazitäten der Praxis so stark ausgeschöpft, dass man die Warteliste für Testungen schließen musste. In besseren Zeiten bekomme man innerhalb von zwei bis vier Wochen einen Termin, so Brinkmann. Eine Diagnose kann für Patienten wichtig sein, um Zugang zu Medikamenten zu bekommen, für viele stehe aber auch die Selbstakzeptanz im Vordergrund, sagt Brinkmann.
Viele Menschen erkennen so, dass sie nicht alleine sind mit dem Gefühl, irgendwie anders zu sein.
„Es gibt auf jeden Fall eine Zunahme an ADHS, und ja, ein Grund dafür ist auch die Häufung der Beiträge in den sozialen Medien dazu“, sagt Brinkmann. In ihre Praxis kommen vermehrt Patientinnen und Patienten, die äußern, im Internet recherchiert zu haben. „In sozialen Medien gibt es eine Entwicklung, dass Menschen ihr Leben darstellen und erzählen, wie es ihnen in verschiedenen Situationen geht und welche Einschränkungen sie erleben“, sagt Brinkmann. Das sehe sie auch positiv: „Viele Menschen erkennen so, dass sie nicht alleine sind mit dem Gefühl, irgendwie anders zu sein. Das ist für viele entlastend.“

Claudia Brinkmann, Geschäftsführerin MVZ Köln für Psychotherapie
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So ging es auch Gennet Patt aus Köln. Die heute 30-Jährige kam mit dem Beginn der Coronazeit auf die Idee, dass sie ADHS haben könnte - kurz, nachdem sie sich Tiktok heruntergeladen hatte. „Der Algorithmus der App hat sich peu à peu auf mich eingestellt, und dann wurden mir schnell die klassischen Videos vorgeschlagen: ‚Wenn du so oder so bist, dann solltest du überlegen, ob du ADHS hast.‘“
Sie habe zu dieser Zeit auch eine Verhaltenstherapie begonnen und ihre Therapeutin auf ihre Vermutung angesprochen. Gemeinsam haben sie eine Testung begonnen, später stellte sich die Diagnose als richtig heraus. Das habe für sie einiges verändert: „Dadurch weiß ich viel besser, wie ich mit mir selber umgehen kann, wie streng oder nachsichtig ich mit mir sein sollte, da ich einfach andere Stärken und Schwächen habe als andere Menschen.“
In sieben bis acht von zehn Fällen führt der Test zu einer ADHS-Diagnose
Von etwa zehn Menschen, die mit dem Verdacht auf ADHS in ihre Praxis kommen, werden etwa sieben oder acht tatsächlich diagnostiziert, sagt Claudia Brinkmann. Für den Anstieg an Diagnosen gebe es neben den vermehrten Testungen noch weitere Erklärungen. Beispielsweise änderten sich die Diagnosekriterien: Wo es früher unbedingt notwendig war, dass die ADHS-Symptome schon im Kindesalter auffielen, sei das heute nicht mehr unbedingt der Fall.
Zudem seien die Testungen durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse besser geworden: „Früher wurden weibliche Personen seltener diagnostiziert. Weil sie schon als Mädchen verstärkt lernen, sich anzupassen und Symptome zu verstecken.“ Das Gleiche gelte für Autismus, was wie ADHS zum neurodiversen Spektrum gehört, so Brinkmann.
Wenn mir als kleines Mädchen gesagt wurde, dass ich mal stillsitzen soll, dann hab ich halt die Bewegung nach innen verlegt.
„Wenn mir als kleines Mädchen gesagt wurde, dass ich mal stillsitzen soll, dann hab ich halt die Bewegung nach innen verlegt“, erzählt auch Gennet Patt, die erst im Erwachsenenalter mit ADHS diagnostiziert wurde. „Teilweise war ich im Unterricht in einem anderen Universum versunken. Nach außen wirkte ich einfach wie ein ruhiges Kind“.
Einmal sei sie durch eine ADHS-Testung durchgefallen, da sie, wie unbewusst schon ihr Leben lang, ihre mit der Neurodivergenz verbundenen Eigenschaften versteckt hatte. Auch Rassismuserfahrungen seien entscheidend dafür, dass sie gewisse Schutzmechanismen entwickelt habe. Um diese zu verstehen, seien ebenfalls soziale Medien relevant gewesen, sagt Patt: „Als ich mir Videos von anderen Frauen oder nicht-weißen Personen mit ADHS angeschaut habe, habe ich gemerkt: Das spiegelt wirklich genau mein Inneres wider, was ich nicht nach außen trage.“
Tiktok-Videos sollte man nicht zu ernst nehmen, sondern als Inspiration nutzen, um sich weiter zu informieren, findet Patt. Soziale Medien sieht sie vor allem als gute Möglichkeit, um Tipps im Umgang mit den eigenen Symptomen auszutauschen.
Wer sich in vielen Videos wiedererkennt, sollte sich professionell testen lassen
Vor allem mit in sozialen Medien kursierenden Tests zur Selbstdiagnose solle man vorsichtig sein, sagt Claudia Brinkmann. „Wenn jemand sich in vielen Videos wiedererkennt, dann würde ich empfehlen, sich auch fachlich testen zu lassen, um das wirklich abzuklären.“ Brinkmann hat den Eindruck, dass die Diagnose in Großstädten wie Köln besonders häufig vorkommt. „Da könnte die Lebensart mit reinspielen. Und es gibt Studien dazu, dass andere Faktoren, wie beispielsweise Umweltgifte Einfluss auf Neurodiversität haben können.“
Dazu komme, dass es in Städten mehr Möglichkeiten zum Testen gebe. In die Praxis des Kölner MVZ für Psychotherapie kommen auch Patientinnen und Patienten aus dem ländlichen Umland, teilweise sogar bis aus Norddeutschland, sagt Brinkmann. Das zeige auch, wie schwierig eine Diagnosemöglichkeit für einige Menschen seien, die durch ADHS einen hohen Leidensdruck haben.
„Es gibt Behinderungen und Beeinträchtigungen, die von außen nicht sichtbar sind“, sagt Gennet Patt. Vielen Menschen sei nicht klar, wie anstrengend es für neurodivergente Menschen ist, sich dauerhaft anzupassen. Dabei seien vermutlich noch viel mehr Menschen von ADHS oder Autismus betroffen, als sich bereits abzeichne. Sie wünscht sich daher, dass Impulse von neurodivergenten Menschen ernst genommen werden: „Vielleicht ist unsere Welt etwas zu laut und wir sollten darauf achten, ein bisschen die Geräusche herunterzuschrauben. Vielleicht werden unsere Sinne zu sehr vereinnahmt von allem, was um uns herum passiert. Ich glaube, dass eine gewisse Vorsicht im Umgang miteinander uns allen guttun würde.“

