Psychologe zu „Squid Game“„Die Schulen müssen beim Nachspielen klare Grenzen setzen“

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Die südkoreanische Serie „Squid Game“ ist die bisher erfolgreichste Netflix-Produktion.

Köln – Der Hype um die Netflix-Serie „Squid Game“ hat auch in Deutschland die Schulen erreicht. Allerorten, so könnte man angesichts der täglichen Schlagzeilen glauben, liefern sich Kinder und Jugendliche plötzlich auf Schulhöfen von „Squid Game“ inspirierte Spiele.

In Pinneberg haben sie in einer Kita Spiele aus der Serie nachgestellt. In Augsburg wurde die Polizei eingeschaltet, weil an mehreren Schulen das Spiel „Rotes Licht, grünes Licht“ nachgestellt wurde: Wer es nicht schaffte, rechtzeitig ins Ziel zu kommen oder erwischt wurde, wie er sich bewegte, wurde dort geohrfeigt.

Die Schulminister in Thüringen und Bayern warnen vor dem „besorgniserregenden Trend“. Dem NRW-Schulministerium sind noch keine Vorfälle gemeldet worden. Aber es würden von der Landespräventionsstelle gegen Gewalt und Cybergewalt an Schulen bereits präventive Vorbereitung getroffen. Eltern und Pädagogen fragen sich, ob es sich um Hysterie handelt oder um einen tatsächlich bedenklichen Trend.

Die bisher erfolgsreichste Netflix-Serie 

Die südkoreanische Serie „Squid Game“ ist die bisher erfolgreichste Netflix-Produktion. Dabei wird die Geschichte von 500 Menschen erzählt, die sich hoch verschuldet haben. Sie treten unter den Augen einiger Superreicher in vermeintlich harmlosen Kinderspielen gegeneinander an, um ein Preisgeld in Millionenhöhe zu gewinnen.

Der makabere Wettbewerb lässt allerdings keine zweite Chance zu: Wer es nicht in die nächste Runde schafft, wird vor den Augen der anderen brutal getötet. So wurden in der ersten Folge allein beim Spiel „Rotes Licht, grünes Licht“ 255 Teilnehmer getötet.

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Das so genannte Kekse-Spiel in der Serie Squid Game.

Bei der Einschätzung, wie das Phänomen zu bewerten ist, gehen an Kölner Schulen die Meinungen auseinander: Es handele sich um ein „völlig zu Unrecht hochgejazztes Medienphänomen“, sagt der Schulleiter des Kalker Kaiserin-Theophanu-Gymnasiums, Oliver Schmitz. Selbst wenn – was er noch nicht beobachtet habe – Spiele wie Tauziehen oder „Rotes Licht, grünes Licht“ ohne jegliche psychische oder physische Gewalt nachgespielt würden, sei das kein Grund für Alarmismus.

Sein Kollege André Szymkowiak vom Gymnasium Thusneldastraße findet dagegen wichtig, auf dem Schulhof aufmerksam zu sein und die Kollegen für die Spiele zu sensibilisieren. „Wenn man beobachtet, dass Schüler zu Opfern werden und es in Richtung Mobbing geht, müssen Schulsozialarbeit und Beratungsteams sofort tätig werden“, meint er.

Der Leiter des Düsseldorfer LVR-Zentrums für Medien und Bildung, Stefan Drewes, setzt sich mit „Squid Game“ an Schulen auseinander. Natürlich gebe es auch im Rheinland Schulen, in denen Szenen nachgespielt werden – es sei eben Thema Nummer eins unter den Jugendlichen. Aber er warnt vor Hysterie: „Das Thema wird hochgepusht, und genau das will Netflix provozieren. Selbst die Berichterstattung über Vorfälle an Schulen sind Kalkül.“ Er wirbt für einen konstruktiven Umgang: „Ich glaube nicht, dass sich die Gewalt in den Schulen durch die Serie erhöht.“

Lehrkräfte müssen sich vorbereiten

Es sei aber wichtig, dass sich alle Schulen auf diesen Hype vorbereiten, fordert Drewes. „Lehrkräfte müssen die Machart der Serien kennen und erkennen, wenn Spiele nachgespielt werden.“ Wenn „Squid Game“ nachgespielt wird, plädiert er dafür, klare Grenzen zu setzen und das zu unterbinden. Dabei findet er wichtig, dass Eltern und Lehrkräfte verstehen, warum Jugendliche die Serie so interessant finden: Es handele sich ja nicht um eine Verrohung. Der Reiz speise sich aus mehreren Komponenten.

Da ist einmal das Thema Gewalt: „Jugendliche lieben die Grenzerfahrung. Dazu gehört, an die Grenze des moralisch Erlaubten zu gehen oder auch darüber.“ Zudem wirke die empörte Reaktion der Erwachsenen verstärkend – „das erhöht den Reiz.“ Dazu kommt die Peer Group: „Wenn man es noch gar nicht schauen darf, aber alle davon reden, erhöht das den Druck und den Reiz, auch mal reinzuschauen. Kein Jugendlicher kann sich einem solchen Hype entziehen. Niemand will in der Gruppe isoliert sein, weil er nicht mitreden kann.“

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Das Perfide sei, dass die Spiele als harmlose Kinderspiele daherkämen. Dann werden die Verlierer brutal erschossen. Es würden moralische Grenzen überschritten, mit Macht und Erniedrigung gespielt, die Kinder oder Jugendliche oft auch schon selbst erlebt haben. Bedenklich findet Medienexperte Drewes vor allen Dingen, dass schon jüngere Kinder „Squid Game“ sehen, für die das massiv verstörend sein kann.

Serie kann auch für Diskussionen im Unterricht genutzt werden

In einer Kölner Grundschulklasse schrieb die Lehrerin einer dritten Klasse alle Eltern an, weil ein Teil der Achtjährigen schon „Squid Game“ gesehen habe – dabei ist die Serie erst ab 16 Jahren empfohlen. Eltern sollten Zugangsbeschränkungen anlegen, raten Medienpsychologen. „Die Altersbegrenzung ist wichtig. Aber grundsätzlich können wir Kinder und Jugendliche davor nicht schützen“, meint Drewes. Zumal Sequenzen auch ohne Netflix über Youtube oder TikTok auf die Handys der Kinder gelangen. Zentral finden Schulleiter Szymkowiak und Medienexperte Drewes, dass durch die Serie noch mal deutlich wird, dass das Thema Medienkompetenz in der Schule Platz haben muss – fächerübergreifend und immer wieder. Aber noch viel wichtiger: Die Serie macht Schulen und Eltern ein Diskussionsangebot. Es wäre eine vertane Chance, dies nicht zu nutzen. „Die Serie bietet die Möglichkeit, über existenzielle Themen im Unterricht zu reden“, schlägt Drewes vor. Wo sind moralische Grenzen? Warum zieht die Serie uns so in den Bann? Aber auch: Wie gehen wir mit Macht und mit Verlieren in der Gesellschaft um?

Selbst das „Philosophie Magazin“ nimmt sich des Themas an: die Serie spiegele die Welt des Neoliberalismus. „Eine Welt, in der Arbeit den absolut höchsten Wert darstellt. Menschen werden aufgefordert, ihre Mitmenschen auf grausame, vom Markt vorgeschriebene Weise zu übertreffen und auszuschalten“, heißt es. „Alles Themen, die wie gemacht sind für Fächer wie Kunst, Philosophie oder Deutsch“, meint Lehrer Szymkowiak. 

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