„Die Russen waren nur 900 Meter entfernt“Kriegsverletzter Ukrainer wird nach Amputation in Köln behandelt

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Der Ukrainer Mykola Hryhorenko sitzt mit seinem Sohn Myroslav vor dem St. Agatha-Krankenhaus in Köln. In der Hand hält er Krücken, zu sehen ist seine Unterschenkelprothese.

Mykola Hryhorenko verlor im Krieg einen Unterschenkel. Sein Sohn Myroslav besuchte ihn in Köln.

Mykola Hryhorenko wurde an der Front im Donbass von einer Mine getroffen. In Merheim musste ihm ein Unterschenkel amputiert werden. Viele Kriegsverletzte werden in Köln behandelt. 

Mykola Hryhorenkos linker Unterschenkel ist jetzt aus Karbon, jeden Tag läuft er mit der Prothese 10.000 Schritte durch Köln – und informiert sich gleichzeitig weiter Tag und Nacht über sein Bataillon im Donbass. Er kennt die aktuellen Frontlinien, die Verteilung von Spenden an seine Kampfeinheit, auch Kölner Bekannte von ihm haben gesammelt, von dem Geld ist eine Wärmebildkamera für seine Kameraden gekauft worden, die schon auf dem Feld angekommen ist. „Das Gerät rettet dort Leben“, sagt der 44-Jährige.

Irgendwann habe ich realisiert, dass die Mine direkt auf mich zufliegt
Mykola Hryhorenko

Die Mörsermine, die am 9. Mai wenige Meter neben ihm einschlug, habe er zuerst nur gehört, sagt der Vater von drei Kindern auf einer Wiese vor dem St. Agatha-Krankenhaus in Niehl. Neben ihm steht sein 18-jähriger Sohn Myroslav, der zu Besuch gekommen ist und seinen Vater erstmals seit dessen Odyssee durch deutsche Krankenhäuser wieder sieht.

Hryhorenko ahmt das Geräusch der Granate mit einem Pfiff nach. „Irgendwann habe ich realisiert, dass die Mine direkt auf mich zufliegt, bin aber einige Sekunden zu spät in den Schützengraben gesprungen.“ Als er zu sich kam, habe er nur seine verletzte Hand gesehen, eine klaffende Wunde, von der eine große Narbe geblieben ist.

Splitter der Mine hatte die Beine getroffen - Zwei Männer waren tot

Durch die Rauchschwaden habe er gerufen: „Wer ist verletzt?“ – „Niemand!“, kam es zurück. „Das stimmte aber leider nicht. Zwei meiner Männer waren tot.“ Als der Rauch sich lichtete und Hryhorenko, Kommandeur einer Teileinheit aus 30 Jägern, aufstehen wollte, sah er, warum das nicht möglich war: Splitter der Mine hatten beide Beine getroffen. Er zeigt Fotos. Sie anzuschauen, ist schwer zu ertragen.

„Ich habe meinen Druckverband aus der Schutzweste geholt und mithilfe eines Kameraden die Wunde an der Hand abgebunden“, sagt Hryhorenko. „Mit zwei weiteren Druckverbänden habe ich die Beine abgebunden. Mir ist durch den Kopf geschossen, dass die Situation sehr kritisch ist – die Russen waren nur 900 Meter entfernt.“

Wie durch ein Wunder sei die Evakuierung entlang der roten Frontzone gelungen. „Als ich auf dem Pickup lag, sind direkt neben uns weitere Granaten eingeschlagen.“ Er habe viel Glück gehabt, es sei allerdings nicht nur Glück gewesen, dass er überlebt hat. „Das Militärkrankenhaus und die Rettungsassistenten waren sehr gut ausgestattet – auch dank Spenden aus der ganzen Welt.“

Mykola Hryhorenko sieht nicht wie ein gebrochener Mann aus. Sein Händedruck ist so fest wie sein Blick, das Englisch geschliffen, der Tonfall: ernst und optimistisch. „Es geht bei dem Krieg nicht nur um Waffenlieferungen, von denen auch in deutschen Zeitungen so viel zu lesen ist“, sagt er.

„Wichtig ist die Solidarität in allen Bereichen.“ Dank internationaler Hilfe habe seine Jäger-Brigade nicht nur Stinger-Raketen, Panzerfäuste und Browning-Maschinengewehre zur Verteidigung gehabt, sondern auch britische Armeerationen. Ukrainische Freiwillige hätten die Soldaten mit Pick-ups, Zelten, Schlafsäcken und Essen „fast wie zu Hause“ versorgt. „Jede Spende, jede Demonstration für die Ukraine und jede Familie, die Kriegsflüchtlinge aufnimmt, hilft“, sagt er.

2014 beschloss er, sich zu bewaffnen

Im Leben jenseits des Krieges arbeitet Mykola Hryhorenko als Leiter der Abteilung Projektmanagement des Lebensmittelunternehmens Nestlé für Süd-Ost-Europa und trägt viel Verantwortung. Seine fortgeschrittene Grundausbildung liegt 20 Jahre zurück. In den vergangenen Jahren hat er allerdings fast jedes Wochenende trainierte Übungen absolviert – „der Krieg begann für uns 2014 und nicht diesen Februar“.

Als die Russen 2014 die Krim eroberten und der Krieg im Donbass begann, hat er sich ein Karabinergewehr gekauft. „Seitdem habe ich damit gerechnet, dass der Krieg eskalieren könnte – auch, weil der Westen Putin nicht sanktioniert hat.“

Der Ukrainer meldete sich freiwillig beim Militär

Als in der Nacht des 24. Februar die ersten Raketen auf Kiew fielen, setzte Hryhorenko sich ins Auto, hob Bargeld ab und kaufte Proviant für die Familie, besorgte Medikamente für die Verletzten im Krankenhaus und meldete sich beim Militär. Zuerst habe man ihm gesagt, er habe drei Kinder, er könne wieder nach Hause fahren.

„Ich habe geantwortet, dass mein ältester Sohn volljährig ist und dass ich Erfahrung als Führungskraft habe“, sagt Hryhorenko. Das reichte, um ihn zehn Tage später als Zugführer der leichten Infanterie („Jäger“) einzusetzen. Wenig später fand er sich im Schützengraben im Donbass wieder.

„Mein Vater ist sehr patriotisch“, sagt Sohn Myroslav. „Es war für ihn klar, dass er nach Kriegsbeginn nicht zu Hause bleibt.“ Wie es ihm und seinen jüngeren Geschwistern damit ergangen sei? „Ich hatte Sorge um ihn, konnte seine Haltung aber sehr gut verstehen, ich war ängstlich und stolz“, sagt Myroslav. „Für meine Geschwister, die 15 und zehn sind und zu Hause leben, war es schwerer. Sie haben viel geweint.“

Die Tapferkeit seiner Landsleute führen Mykola Hryhorenko und sein Sohn auch auf die Maidan-Bewegung zurück. „Die Demokratiebewegung hat vielen Menschen, die an autoritäre Regime gewöhnt und eher passiv oder unpolitisch waren, gezeigt, dass sie etwas bewegen können, dass sich das Leben zum Besseren verändern lässt“, sagt Hryhorenko.

Die Russen wissen, dass der Krieg unfair ist
Mykola Hryhorenko

Das, glaubt er, sei ein wichtiger Unterschied zwischen der Ukraine und Russland: „Die Ukrainer sind in den vergangenen Jahren zu politisch-aktiven Menschen geworden. In Russland hat Putin einen Gesellschaftsvertrag gegründet, in dem der Mittelstand Geld hat und den Mund hält. Die Menschen dort sind unpolitisch. Sie haben auch keine Motivation, in den Krieg zu ziehen, da sie wissen, dass der Krieg unfair ist.“

Hryhorenko erzählt lange von der Moral seiner Truppe. Von Ukrainern, die für den Einsatz an der Front sogar aus Italien, Polen, Portugal oder Großbritannien eingereist seien. „In meiner Truppe waren die meisten Männer Reservisten, die älter als 45 waren. Sie waren alle total motiviert. Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, zu desertieren – ich habe selbst Russen getroffen, die das getan haben und mir erzählt haben, dass sie keinen Sinn darin sehen, gegen uns zu kämpfen.“

Im Krankenhaus in Lemberg habe man ihm gesagt, dass die Chancen, seinen Fuß zu erhalten, in Deutschland größer seien. „Also bin ich nach Deutschland geflogen, in der Hoffnung, dass hier der medizinische Standard höher ist.“ Seit Anfang Juni wurde Hryhorenko im St. Petrus-Krankenhaus in Bonn siebenmal operiert. In der Wunde waren allerdings Bakterien, die gegen sämtliche Antibiotika resistent waren.

Kollegen aus seinem Unternehmen vermittelten einen Kontakt nach Merheim. Der leitende Unfallchirurg Bertil Bouillon habe ihm gesagt, es gebe zwei Möglichkeiten: Er kann ein Jahr lang alles versuchen, um den Unterschenkel zu retten – die Wahrscheinlichkeit, wieder normal laufen zu können, sei sehr gering. Oder er könnte unterhalb des Knies amputieren – dann könnte er mit einer modernen Prothese nach kurzer Zeit wieder laufen. Er habe zwei Tage überlegt, sagt Hryhorenko.

In der Ukraine wird er die Gräber seiner Kameraden besuchen

Nach der Amputation folgt eine monatelange Reha-Phase. Mykola Hryhorenko wartet darauf, in die Ukraine zurückkehren zu können. „Ich werde zuerst zum Friedhof meiner gefallenen Kameraden gehen“, sagt er.

Und dann? „Ich bin weiterhin Offizier der ukrainischen Armee. Ich weiß nicht, ob ich weiter an der Front eingesetzt werden kann. Ich werde da sein, wo ich gebraucht werde.“

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