Telefonseelsorge in KölnVon Fake-Anrufen, Geheimnissen und Gewalt

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Frau K. in Raum 118 des Kölner Kinderschutzbundes, wo das Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche steht.

  • Seit zwei Jahren arbeitet die Kölnerin Frau K. als Beraterin bei der "Nummer gegen Kummer".
  • Manchmal ist sie große Schwester, manchmal hört sie nur zu. Ihre zwei Gebote: Geduld und keine Vorurteile.
  • 12.000 Beratungen im Jahr macht allein das Kinder- und Jugendtelefon des Kinderschutzbundes Köln.

Köln – Fast eine Stunde war vorbei, da legte das Mädchen, das Frau K. noch nie gesehen hatte, von dem Frau K. nichts wusste, kein Alter, keine Haarfarbe, keinen Namen, nicht einmal aus welcher Stadt es kommt, einfach auf.

Vorbei. 50 Minuten, in denen das Mädchen viel gesprochen und in denen Frau K. zunehmend dieses beklemmende Gefühl im Bauch bekommen hatte. Sexueller Missbrauch, da gibt es keine Routine, kaum Abgeklärtheit. Und da war ja noch mehr. Kein Ansprechpartner innerhalb der Familie, die Mutter psychische Probleme, das Mädchen keine Freunde, denen es sich anvertrauen konnte. Mobbing in der Schule.  Also erzählte es jetzt am Telefon. Alles auf einmal. Und am anderen Ende der Leitung saß Frau K., eine hübsche junge Frau, mittellanges blondes Haar, 27 Jahre alt, Masterstudentin der Sozialen Arbeit, und hörte zu.

Und dann, irgendwann, legte das Mädchen einfach auf. War das jetzt die Leitung? War ihr Akku leer? Kam jemand anderes ins Zimmer? Frau K. wusste es nicht und obwohl das Telefon, ein kleiner schnurloser Apparat auf einem hellen Schreibtisch, schon wieder schellte, stand sie auf und ging erst einmal hinaus. Hinaus aus dem Zimmer, Raum 118, vielleicht zehn Quadratmeter groß, „Kinder- und Jugendtelefon, Ehrenamt“ steht auf dem Schild vor der Tür. An der Wand hängen ein Kalender mit Katzenbildern und zwei Zettel. „Lach doch“, steht auf einem. „Beratung bezeichnet ein Gespräch, bei dem ein Thema mit Methoden von Beratung bearbeitet wird. Hierzu zählen alle Gesprächsfertigkeiten, die der Problemklärung und -lösung dienen“ auf dem anderen. Ein Zitat aus dem Leitfaden zur Datenerhebung der Telefonseelsorge, Jahr 2013. 12.14 Uhr: Mädchen hat Angst vor einer Klassenarbeit in Mathe, für die sie glaubt, nicht genug gelernt zu haben. Sie geht noch in die Grundschule. Ihre Noten seien in den letzten Arbeiten nicht sehr gut gewesen, sie will ihre Eltern  nicht wieder enttäuschen.   Wenn Frau K. Gespräche über Probleme führt, bei deren Lösung  sie kaum helfen kann,  dann muss sie immer mal wieder raus. Sich „herunterfahren“ nennt sie das. Kaffee, fünf Minuten Ruhe. Eine Technik, die  sie für sich entwickelt hat,  in den zwei Jahren, die sie nun beim Kinderschutzbund arbeitet. Ehrenamtlich, zweimal die Woche in dem Bürogebäude an der Bonner Straße, bei der 116111, „Nummer gegen Kummer“.

Frau K. entdeckte eine Anzeige in der Zeitung, da war sie noch im Bachelor, Erziehungswissenschaften. Alle ein bis zwei Jahre schult der Kinderschutzbund in Köln neue Telefonberater. Ein halbes Jahr geht die Ausbildung, sie folgt einem vorgegebenen Curriculum, ist unterteilt in verschiedene  Oberthemen, eins lautet „Gewalterfahrung“.  Sechs Monate lang wurde Frau K. einmal in der Woche sensibilisiert, sie erfuhr alles über Anlaufstellen, auf die man verweisen kann, bei Fällen von häuslicher Gewalt etwa,  sie erlernte Methoden, um nach einer schwierigen Beratung nicht zu viel davon  mit in den restlichen Tag zu nehmen.

Viermal saß sie bei einer Schicht daneben, Hospitationsphase hieß das. Frau K. war sehr zufrieden mit der intensiven Ausbildung, sie fühlte sich bereit.

„Kaffee tut eigentlich immer gut“, sagt Frau K. Das Mädchen allerdings verschwand auch nach dem Kaffee nicht aus ihrem Kopf.  Nach der Schicht rief sie den Hintergrunddienst an, die Nummer ist  im Büro vermerkt. Dann notierte sie  den Anruf in dem roten Buch, in das sie alle Anrufe mit Datum, Uhrzeit und Kennnummer schreiben. Mal reichen drei Sätze, mal braucht es eine Seite. Situationen wie die gefetteten in diesem Text, die hier in der Zeit verändert und den Details gekürzt wurden, um Anrufer zu schützen. 12.25 Uhr: Junge in der Pubertät hat Angst, schwul zu sein. Er hätte manchmal Fantasien mit Männern, wenn er sich selbstbefriedigt, darüber gesprochen hat er noch mit niemandem. Seine Freunde benutzen „Schwuchtel“ als Schimpfwort und er habe Angst, dass sie ihn nicht respektieren, genauso wie davor, dass er nun „weiblicher“ werden würde.

„Teil der Psychohygiene“, sagt Frau K.  Das Gespräch ist dann, einmal aufgeschrieben, nicht mehr nur in einem selbst. An diesem Tag versah Frau K. den Eintrag noch mit ihrem Kürzel. So wissen die anderen, dass sie noch einmal darüber reden wollte in der nächsten Fallberatung. Supervision nennen sie das. Alle sechs Wochen gibt es die, ein Kollege aus der Familienberatung, ein Hauptamtler, gibt systematisches und fachliches Feedback. Frau K. erzählte von dem Mädchen. Wie mitgenommen sie von dem Gespräch war. Und merkte, dass zwei andere Mitarbeiter aus Köln den Fall bereits kannten, dass sie dasselbe Mädchen auch schon beraten hatten.

Das ist ungewöhnlich. 90 Prozent der Anrufer wählen die „Nummer gegen Kummer“ über ihr Handy. Und weil darüber keine regionale Schaltung möglich ist, weil es keine örtliche Vorwahl gibt, landen sie bei irgendeiner der 79 Stellen in Deutschland. Vielleicht kam das Mädchen aus Brandenburg, vielleicht aus Bayern. Frau K. weiß es nicht. Aber nun wusste sie zumindest, dass es oft anrief und die anderen Kollegen sich ähnlich gefühlt hatten nach den Gesprächen. Frau K. ging es nach dem Austausch besser.

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Von 14 bis 20 Uhr, von montags bis samstags, ist das Kinder- und Jugendtelefon erreichbar, in Köln teilen sich von den 15 Ehrenamtlern immer zwei einen Tag. Drei Stunden Schicht. Allein in Köln führen sie etwa 12 000 Beratungen im Jahr durch, die meisten Gespräche dauern weniger als fünf Minuten. Es gibt aber auch welche, die gehen zwei Stunden.  57 Prozent der Anrufer sind männlich. Frau K. glaubt, das liegt daran, dass sich Jungen oft nicht trauen, über Sexualität und persönliche Probleme mit Eltern oder Freunden zu sprechen. Sie brauchen die Anonymität. Nach Schulschluss, sagt Frau K., klingelt das Telefon tatsächlich durchgängig. Manchmal redet der Anrufer direkt drauflos, manchmal ist nur Schweigen, minutenlang. Frau K.  sagt dann Sachen wie: „Wir können auch einfach über deinen letzten Urlaub reden.“ Oder: „Erzähl mir doch mal, wie es in der Schule läuft.“ Geduld und keine Vorurteile. Das sind die zwei Gebote der Frau K.  Auch sie bleibt anonym, das will sie so und das haben sie im Team auch so vereinbart. Manchmal, wenn ein Kind drei oder viermal fragt, wie Frau K. denn nun heißt, dann sagt sie: „Denk dir doch einfach etwas aus.“ Dann nennen sie Frau K. Annabel oder Lara oder Susanne. Frau K. gefällt das. 12.32 Uhr: Süßer Fake-Anruf. Mädchen sagt, sie traut sich nicht, ihrem Schwarm zu sagen, dass sie verliebt ist. Gelächter im Hintergrund.

Frau K., das weiß sie, ist auch eine Option, um Langeweile zu zerspaßen. Über die Hälfte aller Anrufe bei der „Nummer gegen Kummer“ sind sogenannte „alternative Kontaktversuche“. Klassische Scherzanrufe fallen darunter. Pizza- oder Döner-Bestellungen. Manche geben sich mehr Mühe, Frau K. merkt trotzdem meistens, wenn sie jemand hochnehmen will. Hat sie ja selbst auch bei ihren Vorgängern versucht, als sie jünger war. Frau K. hat Verständnis, manchmal ist sie sogar beeindruckt von der Kreativität der Kinder.   Nach drei oder vier solcher Anrufe braucht Frau K. allerdings einen Kaffee. 12.42 Uhr: Älterer Mann onaniert. Gespräch sofort beendet.

Manchmal fühlt sich Frau K. nach einem Telefonat aber auch ekelig. Es gibt diese Daueranrufer, nicht die netten. Diejenigen, die aufdringlich werden, die ihr Dinge erzählen, die sie nicht hören will und sie Sachen fragen, auf die sie nicht antworten will. Oft melden sie sich mit Namen, manche rufen schon seit zehn Jahren an. Frau K. weiß dann schon, was kommt, aber sie kann sich nicht wehren, sie sprechen es  direkt heraus, in den ersten zwei Sekunden und eine so kurze Zeit reicht für eine Belästigung. Auch diese Anrufe fallen unter „alternative Kontaktversuche“.

Das ist die "Nummer gegen Kummer"

Mit fast 3500 ehrenamtlichen Mitarbeitern ist die „Nummer gegen Kummer“ die größte Telefonberatung für Kinder und Jugendliche in Deutschland.  Die Leitungen stellt die Telekom,  die Standorte werden von lokalen Trägern betreut.  In Köln ist der Kinderschutzbund zuständig, hier wurde bereits 1970 das erste Kinder- und Jugendtelefon Deutschlands gegründet.  Finanziert wird das Angebot zum Großteil   aus Spenden. Im Mai  werden erneut ehrenamtliche Mitarbeiter für das Seelsorge-Telefon geschult.  (jl)

Einige wenige Kollegen, sagt Frau K., die hören deswegen auf. Die sind frustriert, sie fühlen sich nicht mehr ernst genommen. Frau K. schon. Es gab ja immer wieder Fälle, diesen einen zum Beispiel: Da war ein Mädchen mit sehr prägnanter Stimme am Hörer, sie gab sich gar keine Mühe zu verheimlichen, dass sie gerade bei Freunden war. Frau K. machte den Spaß mit. Zwei Stunden später war dasselbe Mädchen wieder am Telefon, dieses Mal allein, dieses Mal zu Hause. Es ging um Elternprobleme, ein Scheidungskind, sie hatte ein schlechtes Gewissen dem Vater gegenüber, weil sie sich entschlossen hatte, bei der Mutter zu wohnen. Als sie auflegten, war Frau K. zufrieden. Gut, dachte Frau K., dass ich beim ersten Gespräch nicht die strenge Lehrerin gespielt habe.

Wie eine leere Landkarte, sagt Frau K., stellt sie sich ihre Gesprächspartner vor. Mit jeder Frage erschließt sich ein bisschen mehr. Sie findet, das ist ein schöner Vergleich. Erkundung auf Zeit. Manchmal würde Frau K. gern wissen, wie die Geschichten ausgehen. Der Nachteil der Anonymität. „Aber ich bin ja keine Therapeutin, ich bin Beraterin“, sagt sie. „Ich kann zuhören und Tipps geben, das zwar besser als die meisten, aber mehr auch nicht. Es ist schon wichtig, seine Rolle zu kennen.“ Aufgelegt heißt aufgelegt.

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