„Entsetzliches erlebt”Kölner Chefarzt Manfred Lütz stellt Buch über Euthanasie vor

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Manfred Lütz liest aus seinem neuen Buch „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden“. Foto: Mund

Manfred Lütz liest aus seinem neuen Buch „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden“. Foto: Mund

Ensen-Westhoven – Mit „Irre, wir behandeln die Falschen“ hat sich der Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses, Dr. Manfred Lütz, zwei Jahre lang in der Spiegel-Bestseller-Liste gehalten. Seine humoristische Sicht auf vermeintlich Normales und das, was augenscheinlich nicht der Norm entspricht, hat seinen Lesern alternative Blickwinkel eröffnet und ihn selbst als satirischen Auswerter westlicher Lifestyle-Phänomene etabliert. In weiteren Werken nimmt er den Diät-Wahn oder die zum Scheitern verurteilte Sinn-Suche in sogenannten Glücksratgebern aufs Korn.

Sein neues Buch, das er im Rahmen der Ausstellung „erfasst, verfolgt, vernichtet“ bei einer Lesung im Dominikus-Brock-Haus vorstellt, unterscheidet sich von allem Vorangegangenen. Fernab ironischer Töne bewegt er sich im Dialogbuch „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden“ mit seinem Gegenüber, dem Holocaust-Überlebenden Jehuda Bacon, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

Jehuda Bacons Geschichte, die ihn als Dreizehnjährigen von Prag nach Theresienstadt, von dort aus nach Auschwitz und kurz vor Kriegsende auf mehrere Todesmärsche in verschiedene Konzentrationslager führt, berührt unmittelbar durch die Form des Dialogs. Aus einem insgesamt 14-stündigen Interview arbeitete Lütz das authentische Zeugnis eines beeindruckenden Lebensweges heraus, fügte Manuskript-Fragmente zu einem linearen Text zusammen.

Schreckliche Erlebnisse

Besonders und deshalb so erzählenswert ist die Geschichte des Malers Jehuda Bacon, weil er trotz seiner schrecklichen Erlebnisse nicht verbittert ist. „Nach dem Krieg begegnete ich wunderbaren Menschen, deren Einfluss bis heute reicht“, berichtet der heute 89-jährige Bacon. Premsyl Pitter, Leiter mehrerer Waisenhäuser, sei es im Speziellen gewesen, der seinen Glauben an die Menschheit wieder hergestellt habe – er, der sowohl jüdischen als auch deutschen Kindern eine neue Lebensperspektive gab. „Er zeigte uns die Möglichkeit der Liebe, der Menschlichkeit. Und so war er für uns die Verkörperung der Möglichkeit: Nicht alle sind böse. Das war eine große neue Erfahrung.“

Liebe, die für Jehuda Bacon gleichbedeutend mit Gott ist, steht im Zentrum seiner Existenz – wie die Malerei, die seine Überlebenstherapie war. „Ich hab’ gezeichnet, das war meine Lösung. Meine Bilder haben mich gerettet“, sagt er auf die Frage, wie er damit umgegangen sei, „wenn die Erinnerungen schwer wurden?“ Das Abbild des Vaters im Rauch eines Krematoriums von Auschwitz ist eines der Motive, die er aus seiner Vorstellung auf die Leinwand transportiert hat. Heute hängt das Werk in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, seiner Wahlheimat.

Zynischer Charakter

In die Ausstellungs-Reihe über „Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“ passe das Buch, weil die Euthanasie die Probe für den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung gewesen sei, meint Manfred Lütz bei seiner Einführung zur Lesung und weist auf den zynischen Charakter dieser mittlerweile bewiesenen Tatsache hin. An kranken und behinderten Menschen habe man ausprobiert, wie der Massenmord technisch am besten funktioniere. Trotzdem sei das Buch kein Buch über Auschwitz, betont Lütz im Vorwort zur Neuerscheinung. „Dieses Buch bringt die Weisheit eines Menschen zur Sprache, der Entsetzliches erlebt hat, aber darunter nicht zerbrochen ist.“

Das Buch „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden.“ von Jehuda Bacon/Manfred Lütz ist im Penguin-Verlag erschienen und kostet in der Taschenbuchausgabe zehn Euro.

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