Reisen, Gemälde und mehrKölner erzählen, was bleibt, wenn geliebte Menschen sterben

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Karl Kühn mit einem Portrait seiner Frau Brigitte, gemalt von Jeanette de Payrebrune. 

Köln – Was bleibt von einem Menschen, wenn er stirbt? Diese Frage haben wir Kölnerinnen und Kölnern gestellt, die nahe Angehörige verloren haben. An diesem Karfreitag erzählen sie hier von ihren geliebten Menschen: Von Plänen, die sie in ihrem Namen verwirklichen. Von Angewohnheiten, die sie übernommen haben. Davon, wie der Tod die Sichtweise auf ihr Leben verändert. Sie erzählen, wie ihre Angehörigen weiterleben - in Erinnerungen, Reisen, Gemälden. 

„Seitdem fotografiere ich pinke Häuser“

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Petra Kiwitt mit einem Foto ihrer Tochter Charlotta

Petra Kiwitt, Mutter von Charlotta: „Lotta war einfach cool, so wurde sie von allen beschrieben. Sie hat so eine extreme Lebensfreude versprüht mit ganz viel Charme, Mut, Witz und Spaß am Leben. Vielleicht wusste sie, dass sie nur kurz bleiben darf.

Lotta war fünf Jahre alt, als sie an Leukämie erkrankte. Als sie mit sechs ganz plötzlich starb, am 2. Juni 2019, war die Therapie eigentlich so gut wie überstanden. Es war eine schreckliche Verkettung von Pech.

Was bleibt, ist der Schmerz. Meist trifft er meinen Körper wie ein Schlag in die Magengrube und tut einfach nur höllisch weh. Ich sehe uns wie ein Mobile, das an der Decke hängt: wenn man eine Figur abschneidet, dann ist es nicht mehr im Gleichgewicht. Wir sind jetzt nur noch drei Familienmitglieder statt vier. Das fühlt sich so falsch an. Neben dem Schmerz bleibt aber die Liebe. Trauer ist ja vor allem Liebe. Und ganz viel Erinnerung.

Was ich mir von Lotta abgeguckt habe ist ihre positive, lebensbejahende Art. Das kann wahrscheinlich nur ein Kind, immer den Schalk im Nacken, auch während der schweren Therapie in der Kinderonkologie. Meinen Job als Führungskraft in einem Konzern habe ich am Tag von Lottas Diagnose aufgegeben. Mittlerweile habe ich mich zur Trauerbegleiterin ausbilden lassen.

Lotta bleibt ein Teil von uns, auch in unserem Alltag. An ihren Geburtstagen sind wir mit Luftballons und Picknick auf dem Friedhof. Wir reden viel über sie. Oft stellen wir uns vor, wie sie über etwas lachen würde. Einmal, auf dem Weg zur Uniklinik, hat Lotta zu mir gesagt „Mama, wenn Du übergraben bist“ - sie meinte begraben - „dann möchte ich in der Nähe von Dir in einem pinken Haus wohnen.“ Seitdem fotografiere ich pinke Häuser, davon gibt es erstaunlich viele in Köln. Mein Heiligtum sind die kleinen Kästchen und Boxen, die sie mit Püppchen und Zubehör gefüllt und oft mit sich herumgetragen hat. Um meinen Hals trage ich immer eine Kette mit Lottas Fingerabdruck.

Wir bauen gerade ein Haus, in dem Lotta auch ein Zimmer bekommen soll: Es wird ein bunter, lebensfroher Raum sein, den ich mit meiner Tochter Pippa gestalte. Hier sollen Lottas Boxen rein, ihre Schleichtiere, Kuscheltiere und Prinzessinnenkleidchen. Es wird aber auch ein Arbeitsraum für die Vorbereitung meiner Trauergruppen sein.

Schmetterling Kiwitt

Auf Lottas Grabstein steht: „Was für die Raupe das Ende der Welt bedeutet, nennt der Rest der Welt Schmetterling.“ An einem Januartag, wenige Monate nach ihrem Tod, saß ich am Grab und ein farbenfroher Schmetterling setzte sich auf meinen Arm. Er blieb dort sitzen, mehrere Minuten. Januar ist eigentlich keine Zeit für Schmetterlinge und noch nie zuvor setzte sich einer auf meinen Arm. Eigentlich bin ich überhaupt kein spiritueller Mensch. Aber am Ende bleibt trotzdem die Hoffnung, dass wir uns wiedersehen.“

„Ein Bild und Erinnerungen – das ist geblieben“

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Karl Kühn mit einem Portrait seiner Frau Brigitte, gemalt von Jeanette de Payrebrune. 

Karl Kühn, Ehemann von Brigitte Kühn: „Als meine Frau starb, dachte ich: Wenn das der Tod ist, dann braucht man keine Angst davor zu haben. Ein Arzt hatte einige Zeit vorher den Krebs entdeckt und gesagt: Ich werde Sie jetzt sofort nach Frechen ins Krankenhaus einweisen. Ja, hat meine Frau gesagt. Dann machen wir das mal. Es war kein Kampf gegen den Krebs, den sie verloren hat. Sie hat die Situation angenommen. Meine Frau starb am 1. September 2013.

Die Art, wie sie mit Ihrer Krankheit umging, hat mir ein ganz anderes Bild von dem Umgang mit todkranken Menschen gegeben. Das hat mir sehr geholfen, auch als mein Bruder und meine Mutter starben. Ein Jahr nach ihrem Tod habe ich eine Ausbildung zum Trauerbegleiter begonnen. Vieles, was ich von meiner Frau gelernt habe, konnte ich anderen Menschen weitergeben. Die Kraft dafür ziehe ich aus den letzten Monaten des Lebens meiner Frau.

Meine Frau war eine akkurate Person, die nach ihren Prinzipien lebte und gleichzeitig sehr empathisch auf andere Menschen einging. Heute spielt sie immer noch eine große Rolle in meinem Leben, jeden Tag. Wenn ich koche, spüle, sauber mache, dann erinnere ich mich daran, wie wir das früher zusammen machten. In den Jahren vor ihrem Tod sind wir jedes Wochenende zusammen in den Wohnwagen gestiegen und verreist. Im Laufe des Jahres möchte ich wieder durch Südfrankreich fahren und habe mir den Atlas von damals vorgenommen. Die Routen, die wir gemeinsam fuhren, sind noch farbig markiert.

Drei Jahre nach ihrem Tod kam es mir so vor, als würde meine Frau mir sagen: Jetzt ist aber mal genug getrauert, geh mal wieder vorwärts mit deinem Leben. 2017 habe ich wieder eine Partnerin gefunden. 

Wir haben viele Kunstausstellungen zusammen besucht, meine Frau und ich. Vor allem in Deutschland und in Frankreich. Nach ihrem Tod habe ich mich mit einer Kölner Künstlerin zusammengesetzt und wir guckten uns Fotos meiner Frau aus 40 gemeinsamen Jahren an. Daraus hat die Künstlerin ein Portrait gemalt, das die Wesenzüge meiner Frau wiederspiegelt. Als meine Tochter das Bild zum ersten Mal gesehen hat, sagte sie: ‚Da ist aber sehr viel von der Mama drin.‘ Ein Bild und viele Erinnerungen – das ist geblieben. Wie schön, dass sie da war.“

„Ich falte jedes Taschentuch so, wie mein Papa es mir gezeigt hat“

Benni und Peter Quiring

Benjamin Quiring als Kind mit seinem Vater Peter Quiring. 

Benjamin Quiring, Sohn von Peter Quiring: „Wirklich viel von meinem Papa geblieben ist nicht. Zumindest nicht zum Anfassen oder Angucken: Eine Schreibtischlampe, ein Duplo-Feuerwehrauto, das ich damals von ihm für das Seepferdchen bekommen habe, ein Ordner mit seinen Schulzeugnissen, sein erstes paar Schuhe und eine graue Umhängetasche, in der er immer sein Insulin, ein Blutzuckermessgerät, Spritzen und Unmengen an Traubenzucker transportiert hat. Ich hasse Traubenzucker.

Dann ist da noch die Zeitungseite mit seiner Todesanzeige, die, obwohl ich sie hüte wie einen Schatz, mit jedem Jahr doch etwas mehr vergilbt. Fast 30 Jahre ist sie inzwischen alt. Am 16. Juli 1993 ist mein Papa, Peter Herbert Quiring, „nach langer Krankheit" gestorben. Knapp einen Monat vorher hatte er noch seinen 38. Geburtstag gefeiert.

Mein Papa hatte seit der Kindheit Diabetes und infolgedessen alle möglichen Folgekrankheiten. Immer wieder war er lange im Krankenhaus. Irgendwann mussten sie ihm auch ein Bein amputieren, welches weiß ich nicht mehr. Aber ich habe viel Verständnis dafür, wenn sich jemand darüber aufregt, wenn sein Behindertenparkplatz einfach zugeparkt wurde. Denn dann ist mein Papa auch immer zum absoluten Choleriker geworden.

Seit ein paar Jahren liegen neben der Todesanzeige auch noch die metallenen Buchstaben seines Grabsteins. Das Grab haben wir aufgelöst, nachdem ich entschieden hatte, dass ich keinen Ort mehr brauche, um mich an meinen Papa zu erinnern.

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Die Todesanzeige von Peter Quiring mit den metallenen Buchstaben, die früher an seinem Grabstein befestigt waren. 

Letztens habe ich nach langer Corona-Abstinenz meine besten Freunde wieder getroffen und ihre Dreitagebärte kratzten bei der Begrüßung über meine Wange. Sofort schoss die Szene in meinen Kopf, wie mein Papa mich vom Kindergarten abgeholt hat und ich ihm in die Arme gerannt bin. Sein Bart hatte in der herzlichen Umarmung genauso gekratzt.

Lesen, Schreiben, die Uhr lesen, Krawatte binden, telefonieren, all das hatte er mir noch vor meiner Einschulung beigebracht. Noch heute falte ich jedes Taschentuch vorm Benutzen zu einem Dreieck, so wie er mir es irgendwann mal gezeigt hat.

Geblieben sind aber auch Verlustängste und zahlreiche Fragen, auf die es keine Antwort geben wird: Wie würde mein Papa das machen? Wäre er stolz auf mich? Worüber würden wir uns streiten? Was war sein Lieblingsessen? Wohin ist er gerne in den Urlaub gefahren? Ich weiß es nicht. Dieses Ostern jedenfalls fährt er in meinem Herzen mit uns nach Holland.“

„Manchmal denke ich, dass man nur durch Schmerz lernt“

Giuliana Coppari

Giuliana

Claudia Coppari, Mutter von Giuliana: „Giuliana war ein Sonnenschein von der ersten Sekunde an. Selbst kurz vor ihrem Tod, als sie wegen ihres Hirntumors kaum noch sprechen und sich bewegen konnte, sagte sie zu mir: „Mama, ich bin sooo glücklich. Danke für alles, du bist die beste Mama der Welt.“ Sie starb am 25. Februar 2007 im Alter von sieben Jahren. Zwischen der Diagnose und ihrem Tod vergingen neun Monate. So lange, wie eine Schwangerschaft dauert. Für einen Abschied war es zu wenig.

Wenn mich heute die kleinen Ärgernisse des Alltags zu überrollen drohen, denke ich an Giuliana und ihre Haltung zum Leben. Dieser Satz von ihr war für mich damals völlig unverständlich. Aus meiner Sicht war ihr Zustand nicht mehr lebenswert. Aber Giuliana war „glücklich und dankbar“.

Wenn ich heute an sie denke, dann frage ich mich, was sie mir und der Welt mit ihrem Leben sagen wollte. Was bleibt ist die Erinnerung an ihr Strahlen, ihre Neugierde auf die Welt und ihr schallendes Lachen. Sie war für jeden Spaß zu haben. All das versuche ich mir auch in schwierigen Situationen vor Augen zu halten. Das Leben steckt voller Überraschungen, negativer aber auch positiver Art. Nichts bleibt wie es ist. Nur das, was wir im Herzen haben, kann uns niemand nehmen.

Giulianas rote Hausschuhe waren ein ständiges Thema zwischen uns. Sie lief immer barfuß, ich trug ihr ständig die Schuhe hinterher und schimpfte. Im Nachhinein gelten mir ihre Schuhe als Mahnmal, wie unnötig diese Streitereien sind. Den Bären auf dem Foto gibt es zweimal. Einer liegt in Giulis Sarg und stellt so für mich eine Verbindung her.

Giuliana Bär

Giulianas Stoffbär. Das Gegenstück liegt in ihrem Sarg. 

Manchmal denke ich, dass man nur durch Schmerz lernt. Früher war ich kein so positiver Mensch, mein Blick ging eher auf das halbleere als das halbvolle Glas. Für diesen Blickwandel bin ich dankbar. Natürlich hätte ich meine jüngste Tochter gerne zurück. Weil dies aber nicht möglich ist, bin ich dankbar für die Fülle, die sie bei mir hinterlassen hat. Für mein weiches Herz und für die Liebe. Heute bin ich für jeden Spaß zu haben, denn das Leben könnte morgen ja schon vorbei sein.

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Claudia Coppari, Mutter von Giuliana Coppari

Auch meine ältere Tochter Laura trägt Giuliana mit viel Liebe im Herzen weiter. Ich bin mir ganz sicher, dass einige Wegweiser in ihrem jungen Leben von Giuliana gesetzt wurden, berufliche wie private. Was habe ich für ein Glück, mit und an solchen Töchtern zu lernen!“

New York steht jetzt ganz oben auf meiner To-Do Liste“

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Wolfgang Kuhn mit seiner Frau Nicole Schäfer

Wolfgang Kuhn, Ehemann von Nicole Schäfer: „Meine Frau war ein liebenswerter Mensch, offen und immer für andere Menschen da. 14 Tage, nachdem wir uns kennenlernten sind wir schon zusammengezogen – diese Herzenswärme und tiefe Verbundenheit, sie war einfach von Anfang an da. Meine Frau ist vor acht Monaten nach schwerster Krankheit im Alter von 49 Jahren gestorben. Wie gerne wäre ich noch weiter mit ihr durchs Leben gegangen.

Was ich von meiner Frau mitnehme, ist ihr Blick nach vorne. Zuversicht zu haben, auch wenn es unvorstellbar scheint. Ich nehme ihre Art mit, auch in schweren Zeiten nicht nur mich zu sehen, sondern auf andere Menschen zu achten. Meine Frau hat vor ihrem Tod viel vorgeplant, sie hat sich sogar ihren Baum im Friedwald selbst ausgesucht. Alles, um mich nach ihrem Tod zu entlasten. Als meine Frau von einer Klinik in die nächste kam, sagte sie immer zu mir: Es geht irgendwie weiter. Du bist bei mir. Diesen Gedanken habe ich jetzt auch.

Wir haben Weihnachten immer geliebt, die Vorweihnachtszeit, das Dekorieren, die Treffen mit unseren Freunden auf dem Weihnachtsmarkt. Wir hatten immer einen sehr, sehr schönen Tannenbaum. Wenn wir über den Fernseher zusahen, wie in New York obligatorisch der Weihnachtsbaum angemacht wird, habe ich immer gesagt: Liebchen, da werden wir beide irgendwann zusammen hin fahren. Das wäre ganz toll, hat sie dann erwidert.

New York steht jetzt ganz oben auf meiner To-Do Liste. Wenn ich stabil genug dafür bin, werde ich dorthin fliegen, an Weihnachten, und Nicole im Herzen mitnehmen. Dann werde ich sehen, wie der Weihnachtsbaum angezündet wird und ganz doll an sie denken.“ 

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