Drogenreport 2013Köln: Die Mutter kokst, die Kinder leiden

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Ein Plüschhase liegt neben einer Linie Koks.

Drogenabhängige erzählen vom schwierigen Leben mit ihren Kindern.

„Mein Leben ist ein Schrotthaufen. Anschaffen, Kokain rauchen, anschaffen, Kokain rauchen. Dazu fünf oder sechs Sixpacks Bier am Tag. Ich habe jetzt drei Nächte nicht geschlafen. Aber ich lebe.“ Heike, Prostituierte.

Heike sitzt auf einem Mäuerchen im Schatten der Hochhäuser von Meschenich und wartet auf Freier. Es ist ein warmer Nachmittag im Oktober. Die 36-Jährige trägt Jeans, Turnschuhe und ein schwarzes T-Shirt. Die schmale Straße am Kölnberg mit dem Kindergarten in der Mitte ist ein Geheimtipp unter Männern, die schnellen und billigen Sex kaufen möchten. „Wenn ich nicht hier warte, sitze sie in irgendeiner Wohnung und kokse“, erzählt Heike. Sie ist obdachlos. „Bis zu 24 Freier mache ich am Tag. Wir fahren raus aufs Feld, und dann Augen zu und durch.“ Seelisch halte man das eigentlich nicht aus, sagt die 36-Jährige. „Aber mit dem Koks und der Sauferei geht’s.“ Seit 15 Jahren lebt Heike so. Ein Teufelskreis. Sozialarbeiter nennen das „Suchtstrudel“.

28 Jahre, ein Sohn (9), eine Tochter (5). Sexueller Missbrauch in der Kindheit. Nimmt mit 13 Jahren zum ersten Mal Cannabis, später auch Amphetamin, Ecstasy, Heroin, Kokain. Gab ihre Kinder freiwillig weg, nachdem das Jugendamt eingeschaltet war. Nach Entgiftung inzwischen clean. Die Tochter zieht bald wieder zu ihr. Bianca sagt: „Ich wollte mich nie mit meinen Problemen auseinander setzen, Drogen waren immer der einfachere Weg.“

Nur sonntags bricht die Hartz-IV-Empfängerin aus ihrem Mikrokosmos aus. Dann darf sie ihre beiden Töchter besuchen. Sie sind zehn und 13, leben in einer Einrichtung in der Südstadt. „Wir gehen Eis essen oder spazieren“, erzählt Heike mit leiser Stimme. „Das ist mein Traum von einer heilen Welt.“

Mehr als 20 Frauen prostituieren sich am Kölnberg. Die jüngste ist Anfang 20, die Älteste über 50. Alle nehmen Drogen: Heroin, Amphetamin oder Kokain, oft alles zusammen. „Einige kennen wir seit 20 Jahren“, sagt Sabine Reichert vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF). „Sie haben Entgiftungen hinter sich, Therapien, waren im Methadonprogramm und schaffen es trotzdem nicht raus.“ Reichert weiß: „Für manche ist der Kölnberg Endstation.“

Aber die Sozialarbeiterinnen geben nicht auf. Mit einer Kollegin steht Reichert an diesem windigen Mittwochnachmittag neben ihrem roten Dienstfahrzeug, einem Kleinwagen mit großem Kofferraum, am Rande der Hochhausschluchten. Die Streetworkerinnen haben Tee, Schokobrötchen, Kondome, Gleitgel und Vitaminpillen dabei. Zweimal in der Woche bieten sie den Frauen Gespräche an, versuchen, sie in Entgiftungen oder Wohnprojekte zu vermitteln.

Mein Leben ist zum Kotzen. Ich bin unten, aber noch nicht ganz unten. Das bin ich erst, wenn ich an der Nadel hänge
heike

36 Jahre, Prostituierte, zwei Töchter. Lebt am Kölnberg, einer Hochhaussiedlung in Meschenich. Zurzeit obdachlos. Süchtig nach Kokain und Alkohol. Bekommt Hartz IV. Vor 15 Jahren zog sie mit ihren Töchtern in eine Wohnung am Kölnberg. Die Kinder hat das Jugendamt inzwischen in Obhut genommen. Heike hat Besuchsrecht. Sie sagt: „Mein Leben ist zum Kotzen. Ich bin unten, aber noch nicht ganz unten. Das bin ich erst, wenn ich an der Nadel hänge.“

Viele Prostituierte haben Kinder, die vom Jugendamt oder Pflegeeltern betreut werden. Drogensüchtig und Mutter – das scheint nicht zusammen zu passen. Fast überall in Deutschland handeln Jugendämter und Sozialträger nach der althergebrachten Devise: Drogenkonsum gleich Kinder weg.

Dabei hat der SkF in Köln einen Weg gefunden, wie es anders geht. Das Jugendamt zieht mit. Clearing-Wohnen heißt das Wohnprojekt für suchtkranke Mütter und ihre Kinder. Es ist bundesweit einmalig – und nicht unumstritten. Denn anders als in üblichen Mutter-Kind-Einrichtungen müssen die Mütter anfangs nicht zwingend abstinent von Drogen leben.

„Irgendwann müssen sie aber eine Entscheidung fällen: Schaffe ich es, clean zu werden mit meinen Kindern oder nur ohne meine Kinder? Wir begleiten diesen Klärungsprozess“,berichtet Projektleiterin Reichert. Unterstützt von der Corneliusstiftung hat der SkF Köln e.V. an der Gereonstraße vier Appartements eingerichtet. Die Mütter und Kinder werden betreut von Sozialarbeiterinnen, einer Kinderkrankenschwester und einer Psychologin.

Bianca (Name geändert) lebte mit ihrem Sohn und ihrer Tochter drei Monate im Clearing-Wohnen, dann erkannte sie: „Ich tue den beiden nicht gut.“ Bianca rief ihre Kinder zu sich. „Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte ihnen, dass ich sehr krank bin. Dass ich im Moment keine gute Mutter sein kann und dass es Leute gibt, die besser auf sie achtgeben können.“ Die Tochter schrie, der Sohn weinte, Mitarbeiter des Jugendamtes brachten sie im Auto weg. Bianca brach zusammen. „Am liebsten hätte ich mir die Pulsadern aufgeschnitten, so stark war der Schmerz.“

Vor dem Gespräch mit der 28-Jährigen baut ihre SkF-Betreuerin vor. Es könne sein, dass Bianca die Unterhaltung abbreche, so nahe gehe ihr das alles. Aber die 28-Jährige wirkt gefasst, selbstbewusst. Ein fester Händedruck, ein freundliches Lächeln. Und dann erzählt sie von ihrem Leben. Fast zwei Stunden ohne Pause.

Morgens hatte ich Speed genommen, abends kam die Fehlgeburt
Bianca

Die Geschichte handelt von Schlägen und sexuellem Missbrauch schon in der Kindheit. Mit 13 raucht Bianca zum ersten Mal Haschisch. „Das dämmte meinen Kopf, ich konnte alle Sorgen ausblenden.“ Mit 15 nimmt sie Speed, später Ecstasy, Heroin, Kokain. Mit 18 wird sie schwanger, verliert das Kind im vierten Monat. „Morgens hatte ich Speed genommen, abends kam die Fehlgeburt.“ Ein Jahr später kommt ihr Sohn zur Welt, mit 23 ihre Tochter. Während der Schwangerschaften kommt Bianca ohne Drogen aus. Kaum sind die Kinder auf der Welt, fällt sie in alte Gewohnheiten zurück.

„Ich bin um fünf Uhr aufgestanden und habe mir einen Korn in den Kaffee geschüttet. Das war mein Frühstück.“ Bevor sie die Kinder weckt, schnieft Bianca Amphetamin. Das putscht sie auf. Sie bringt den Sohn zum Schulbus, setzt die Tochter im Kinderzimmer ab. „Ich habe mich fast gar nicht mit ihr beschäftigt, nur das Nötigste getan. Keine Ausflüge, kein Kuscheln, kein Spaß machen auf der Couch. Es war nur ein Überleben. Ich war wie ein Roboter.“


Weit mehr als 30 Anlaufstellen für Drogenabhängige gibt es in Köln – Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, Wohnprojekte, Notschlafstellen oder Entgiftungseinrichtungen. Auch Mütter oder Väter, die den Verdacht haben, dass ihre Kinder illegale Drogen nehmen, finden bei verschiedenen sozialen Trägern der Drogenberatung Unterstützung. Unter der zentralen Rufnummer 0221/ 19 700 verweisen Mitarbeitende des Vereins Suchtnotruf Köln die Anrufer an die passende Fachstelle. Der Suchtnotruf Köln e.V. ist an allen Tagen der Woche jeweils zwischen 11 und 21 Uhr erreichbar.

Angebote der Stadt Köln sind hier zusammengefasst (hier klicken).


Das Speed hält sie wach. „Es setzt die Gedanken aus. Man erlebt einen Höhenflug. Ich dachte, ich mache alles richtig, dabei hatte ich den Blick als Mutter komplett verloren.“ Abends raucht Bianca Marihuana, um schlafen zu können. Drei Jahre geht das so – bis ihre Schwester das Jugendamt informiert. Am 11. August 2008 holen zwei Mitarbeiter Bianca und ihre Kinder zu Hause ab und bringen sie ins Clearing-Wohnen.

60 Frauen haben das Projekt seit 2005 durchlaufen, fast die Hälfte konnte mit dem Kind wieder ausziehen – suchtfrei und selbstbestimmt. „Die anderen hatten immerhin die Möglichkeit, sich aktiv an der Entscheidung für die Zukunft ihres Kindes zu beteiligen, sich mit Pflege- oder Adoptiveltern zu verständigen und sich dann gut von ihren Kinder zu verabschieden“, sagt Reichert. „Auch für die Kinder ist das Gold wert.“

Seit elf Monaten ist Bianca jetzt clean. Sie hat eine Entgiftung hinter sich, macht eine Psychotherapie, lebt inzwischen in einer eigenen Wohnung. Ihre Tochter hat zwei Jahre in einem Pflegedorf verbracht, soll bald dauerhaft zur Mutter zurückkehren. Der Sohn wird vorerst weiter in einer Einrichtung betreut. Bianca weiß, dass es Mütter gibt, die in einer ähnlichen Situation nicht die Kurve kriegen. „Man muss schon extrem stark sein“, sagt sie. „Und man muss sich helfen lassen. Alleine geht’s nicht.“

Es ist jetzt 15 Uhr. Unruhig rutscht Heike am Kölnberg auf ihrem Mäuerchen umher. Kein Freier in Sicht. Die 36-Jährige sehnt sich nach einer Pfeife mit aufgekochtem Kokain. Aber sie braucht Geld. Ob sie jemals in der Lage sein werde, allein für ihre Töchter zu sorgen? Heike schweigt. Sie dreht den Kopf zur Seite, damit man ihre Tränen nicht sieht.

Dieser Artikel ist erstmals am  19. November 2013 auf ksta.de erschienen.

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