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Erinnerungen an Stadtarchiv-Einsturz„Jetzt müssen Sie aber mal aufhören zu schreien“

Lesezeit 7 Minuten
24.06.2025 Köln. Abschiedsinterview mit Bettina Schmidt-Czaia, Leiterin des Historischen Archivs mit Rheinischem Bildarchiv – sie geht Ende des Monats in Ruhestand. Foto: Alexander Schwaiger

Bettina Schmidt-Czaia, Leiterin des Historischen Archivs, geht Ende Juni in den Ruhestand.

Die Katastrophe vom 3. März 2009 hat das Leben von Bettina Schmidt-Czaia (65) auf den Kopf gestellt. Ende Juni geht die Direktorin des Historischen Archivs der Stadt Köln in den Ruhestand.

Frau Schmidt-Czaia, der Einsturz des Stadtarchivs am 3. März 2009 hat Ihre gesamte Amtszeit geprägt. Haben Sie mal darüber nachgedacht, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte es diese Katastrophe nicht gegeben?

Klar wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Da wird man reingeschmissen. Ich musste mich nicht nur mit dem kompletten Einsturz, sondern vor allem mit der Rettung der Bestände beschäftigen.

Wie haben Sie diesen Tag erlebt, wie verarbeitet? Was hat sich eingebrannt, mit dem Abstand von mehr als 15 Jahren?

Irgendwann hört man auf mit der Verarbeitung des Geschehens, damit man nicht zum Opfer der eigenen Schicksalsschläge wird. Das wollte ich nie werden. Es ist wichtig, in solchen Situationen nach vorn zu blicken. Anfang diesen Jahres habe ich einen langen Urlaub gemacht. In dieser Zeit ist das Vergangene viel blasser geworden als in den ersten Jahren nach dem Einsturz, in denen die Folgen der Katastrophe für die Stadt, aber vor allem für die Bestände, meinen kompletten Tagesablauf geprägt haben. Dabei war der Tag des Einsturzes einer der ersten, an dem ich mit mir selbst und meiner Arbeit in Köln eigentlich sehr zufrieden war.

Warum?

Ich habe im November 2005 in Köln begonnen und stand vor der Aufgabe, das Archiv komplett neu zu organisieren. Aus einem forschenden Institut, das still für sich arbeitete, sollte ein Bürgerarchiv, eine Einrichtung für die Menschen der Stadt und die Forschenden werden, es sollte sich weniger mit sich selbst befassen. Das war mein Konzept. Dafür hatte man mich geholt. Für uns war das eine äußerst positive Entwicklung. Wir hatten dafür zwölf neue Stellen bekommen. Das Wichtigste aber war, dass wir zu einem eigenständigen Amt im Dezernat für Kunst und Kultur aufgewertet wurden. Das war ein Riesenerfolg. Wir haben das Haus saniert, neues Mobiliar angeschafft.

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Das klingt nach Aufbruchstimmung.

Ja. Am 3. März 2009 hatte ich erstmals das Gefühl: Das hast Du geschafft. Jetzt können wir damit beginnen, das Haus in die Stadtgesellschaft hinein auszurichten. Das kriegst du schon hin. Bis dahin wussten die Menschen doch gar nicht, dass das Historische Archiv jedem offensteht. Ich hatte um 13.40 Uhr einen Gast, mit dem ich ein Event mit der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde planen wollte. Wir waren fast fertig, als unser Haustechniker reingestürzt kam und schrie: „Wir müssen sofort raus aus dem Haus.“ Dann drehte er sich um und rannte weg. Ich weiß noch, dass ich meinen Gast gebeten habe: „Gehen Sie schon mal vor, ich hole meinen Mantel und komme nach.“

Trümmer liegen am Mittwoch (04.03.2009) in Köln an der Stelle, an der sich das eingestürzte Historische Stadtarchiv befand. Einen Tag nach dem Einsturz des Historischen Stadtarchivs in Köln werden noch immer mehrere Menschen vermisst. Foto: Oliver Berg dpa/lnw +++(c) dpa - Bildfunk+++

Bis heute ein Trauma für die Stadt Köln: Der Einsturz des Stadtarchivs am 3.März 2009, bei dem zwei Menschen ihr Leben verloren.

Haben Sie da schon realisiert, was gerade passiert?

Nein. Ich bin losgerannt. Nach hinten raus über den Fluchtweg, über die ganzen Flure zur Tartanbahn der Kaiserin-Augusta-Schule. Ich höre noch die Absätze meiner Schuhe auf dem Linoleum klacken. Ich dachte, komisch, außer dir ist hier keiner unterwegs. Dann bin ich den ganzen Weg zurück gerannt in den Bereitstellungsraum für die Archivmaterialien, habe die Tür des Lesesaals aufgerissen und gesehen, dass da Riesenaufruhr war. Alle griffen nach ihren Klamotten und rannten raus. Ich habe mich umgedreht, aber anstatt vorn rauszulaufen, was deutlich kürzer gewesen wäre, bin ich den ganzen Weg wieder zurück gerannt, weil das ja der Fluchtweg für die Mitarbeiter war. Wir standen dann draußen, mit fünf oder sechs Kollegen. Der Haustechniker kam wenig später hinterher und ich habe ihn noch gefragt: „Sagen Sie mal, warum bin ich jetzt eigentlich rausgerannt?“ Er hat es nicht einmal geschafft, mir eine Antwort zu geben. Man sah aus diesem Blickwinkel von der Tartanbahn aus nur noch, wie der sechsstöckige Archivturm einstürzt. Ich war tief betroffen, habe wie am Spieß geschrien, erinnere mich nur, dass der Verwaltungsleiter auf mich zukam und sagte: „Jetzt müssen Sie aber mal aufhören zu schreien.“

Was ist in diesem Moment in Ihnen vorgegangen?

Mein erster Gedanke war: Waren noch Menschen im Gebäude? Und mir war sofort klar: Das gesamte Archiv ist betroffen, mit allen Beständen. Das hat so wehgetan. Das hat sich sofort tief in die Seele eingebrannt. Archivare und Archivarinnen, Restauratoren und Restauratorinnen sind darauf gedrillt, alles zu tun, um Archivgut zu schützen. Das ist ihre erste Aufgabe. Man sagt heute, die sind intrinsisch motiviert. Man hat lange dafür gelernt. Ich habe studiert und promoviert, war anschließend Referendarin, mit fast 35 bin ich dann in das Berufsleben eingestiegen. Köln war nach dem Stadtarchiv in Braunschweig meine zweite Leitungsstelle und Ziel meiner Träume. Es gibt in Köln sehr wertvolle Bestände des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Damit wollte ich mich neben meiner Leitungsfunktion eigentlich beschäftigen.

Es ist anders gekommen.

Ja. Die ersten drei Jahre habe ich mich mit der Reorganisation befasst und danach nur noch Krisenmanagement betrieben. Bis zum Einzug ins neue Haus am Eifelwall.

Ein Lebenstraum in Trümmern. Das Archiv für die Kölner zu öffnen, es zu einem Ort der Begegnungen und des wissenschaftlichen Austauschs zu machen, schien in weite Ferne gerückt.

Das sah zunächst einmal so aus und war sicher einer der schmerzhaftesten Momente in meinem Leben. Heute können wir sagen, wir haben 95 Prozent geborgen, das ist auch alles wiederherstellbar, in welcher Form auch immer. 20 Prozent können wir schon wieder nutzen. Damals wussten wir das alles nicht. Wir haben zweieinhalb Jahre geborgen, zum Schluss aus dem Grundwasser. Bis 2050 oder 2060 muss die Stadt noch durchhalten. Dann hat sie sich ihr Archiv wieder ertrotzt. Das muss man erstmal schaffen. Die Rückstellung aus dem Schadenersatz wird dafür voraussichtlich reichen, auch wenn man äußere Bedingungen wie beispielsweise die Inflation nicht kalkulieren kann. Das sind rund 400 Millionen Euro.

Haben Sie irgendwann mal gedacht, das ist mir alles drei Nummern zu groß, das kann ich nicht stemmen?

Klar, aber aufgeben wollte ich nicht. Und ich bin in einem wirklich gut: Ich kann durchhalten. Darauf bin ich gedrillt worden. Es hätte mich bis ins Grab verfolgt, wenn ich aufgegeben hätte. Nach dem Ende der Bergungsphase waren wir alle völlig erschöpft. Dass das diese Dimensionen annehmen würde, konnte man sich nicht vorstellen. Eine öffentliche Verwaltung, die im Dreischichtbetrieb nach Feuerwehrstrukturen arbeitet.

Das klingt wie nach Befehl und Gehorsam streng militärisch organisiert.

Ja. Alle wurden in Schichten eingeteilt. Es gab einen Archivar vom Dienst, einen Restaurator vom Dienst. Alles hörte auf dieses Kommando. Es gab keine Diskussionen. Und dann wurde uns klar, dass es zu einem Schadenersatzprozess mit einem umfänglichen Beweissicherungsverfahren kommen wird.

Mit welchen Folgen?

Wir mussten dazu eine lückenlose Dokumentation des Umgangs mit dem Archivgut erstellen. Auf den Trümmerberg durften wir nicht. Schon aus Sicherheitsgründen. Das zerstörte Archivgut wurde uns angereicht. Erst von der Feuerwehr und dem THW, später von Höhenrettern und Industrietauchern. Für jedes Stück, das geborgen wurde, musste festgehalten werden: Wer hat was gemacht, wo hat es gelegen, in welches Asylarchiv ist es gekommen? Jeder einzelne Fund wurde mit einem Barcode versehen. Wir waren jahrelang in einer absoluten Stresssituation.

Warum?

Die Materialien waren zur Aufbereitung auf 16 Asylarchive in Deutschland verteilt, von Schleswig bis Freiburg. Ich habe Familien trennen müssen. Archivare haben die Woche über irgendwo in Deutschland in Ferienwohnungen und Hotels gelebt. Die Funde irgendwo außerhalb eines hauptamtlich betreuten Archivmagazins zu lagern, hätten die Versicherungen nicht mitgemacht. Erfahrungen im Tiefbau und später ein Jurastudium hätten mir damals sehr geholfen.

Aus der politischen Debatte um Schuld und Verantwortung haben Sie sich immer herausgehalten. Warum?

Die Stadt und ihre Führungskräfte sind von der Öffentlichkeit damals sehr beschimpft worden. Ich habe mich dazu entschieden, die Aufklärung der Polizei und der Staatsanwaltschaft zu überlassen. Das war auch richtig so. Mir ging es immer nur um meine Mitarbeitenden und das Archivgut in Not. Deshalb habe mich aus den politischen Geschichten herausgehalten.

Mit der Erinnerungskultur ist das auch so eine Sache. Es gab einen jahrelangen Streit über eine Gedenkstätte.

Zu Beginn dieser Debatte hat das Dezernat für Kunst und Kultur entschieden, dass wir unser Erinnern organisieren sollen. Alles, was das Archiv betrifft, sollten wir übernehmen. Das war wie ein Reflex. Das habe ich abgelehnt. Unser eigenes Einsturzgedenken zu organisieren, damit sind wir in jeder Weise überfordert. Zum einen hatten wir keine Kapazitäten für weitere Aufgaben. Wir haben gearbeitet und gearbeitet und weder nach rechts noch nach links geschaut. Zum anderen hätten wir unsere eigene, teilweise sehr persönliche Erinnerung als die für alle gültige definiert.

Wann haben Sie zum ersten Mal darüber nachgedacht, jetzt ist alles so weit gediehen, dass ich meine Arbeit einem Nachfolger übergeben kann?

Das war an dem Tag, als wir den Neubau bezogen haben. Ich wollte erleben, dass alle Mitarbeitenden wieder an einem Standort sind, dass die Bedingungen für Restaurierung, Wiederaufbau und Rekonstruktion der Bestände gut sind und das Personal steht. Wenn ich das Gefühl habe, ich kann die jetzt allein lassen, dann gehe ich. Ich musste sicher sein, dass auch alles wie geplant funktioniert. Jetzt bin ich auch sehr erleichtert, dass ich den Rucksack der Verantwortung endlich abgeben kann.

Welches Bild von Köln haben Sie? Ist die Stadt ein Stück Heimat geworden?

Es gibt Seiten an Köln, die finde ich einfach großartig. Mit Italien geht es mir genauso. Aber ich habe schon etwas Preußisches an mir: Durchhalten, Ziele verfolgen und so weiter. Das ist nicht kölsch. Die kölsche Mentalität ist reizvoll und interessant. Aber das bin nicht ich. Das muss man wissen.