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Lesung in KölnThorsten Nagelschmidt: „Weihnachten ist das Fest der familiären Abschottung“

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Autor Thorsten Nagelschmidt (r.) geht mit Musikproduzent Lambert auf Tour. Sie vertonen seinen neuen Roman

Autor Thorsten Nagelschmidt (r.) geht mit Musikproduzent Lambert (l) auf Tour. Sie haben gemeinsam seinen neuesten Roman „Nur für Mitglieder“ vertont. 

Über seine Weihnachtsflucht nach Gran Canaria schrieb der Musiker und Schriftsteller einen Roman. Elf Tage schaute er acht Stunden täglich die US-Serie The Sopranos. 

In der Innenstadt blinkt und leuchtet es überall; auf den Weihnachtsmärkten brummt es. Im Gloria Theater sollte am Montag, 8. Dezember, aber Anti-Weihnachts-Stimmung herrschen. Dann sollte Autor und Musiker Thorsten Nagelschmidt mit dem Berliner Pianisten Lambert eine Mischung aus Konzert und Lesung seines neuen Romans „Nur für Mitglieder“ – die Geschichte seiner Weihnachtsflucht nach Gran Canaria präsentieren. Der Auftritt ist aber abgesagt worden.

Aus dem Buch ist ein Musikalbum entstanden, das Songs wie „Nie wieder Weihnachten in Deutschland“ enthält: sieben Lieder mit Textpassagen aus dem Roman. Nagelschmidt spricht den Text mehr, als dass er singt. In Köln sollte seine Tour starten, mit der Stadt verbindet der Autor viele persönliche Erlebnisse. „Es ist eine ganz wichtige Stadt auf Tour. Eigentlich möchte man eher dort anfangen, wo es noch nicht so aufgeladen ist, zum Beispiel in Kassel oder Braunschweig. Andererseits kann danach auch nicht mehr viel schiefgehen, sagte eine befreundete Tourmanagerin aus Köln zu mir, daher freue ich mich jetzt auf den Start in Köln“, sagt Nagelschmidt im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Thorsten Nagelschmidt feiert seit 25 Jahren kein Weihnachten mehr

Wie es zur Buchidee kam? Mit Ausnahme „eines Rückfalls“, wie er sagt, hat der 49-Jährige seit 25 Jahren kein Weihnachten mehr gefeiert. Das Fest der Liebe, der Familie – das sei ihm immer mehr als Farce erschienen. „Natürlich habe ich das als Kind auch geliebt und war heiß auf Geschenke. 1986 gab es dann ein Weihnachtsfest, bei dem sich etwas verändert hat bei uns. In den frühen Nullerjahren hat es mich dann einfach nur runtergezogen“, sagt der Berliner Autor, der auch Sänger und Texter der deutschen Punk-/Alternative-Rock-Band Muff Potter ist. Einmal sei er in ein Loch gefallen, sodass er sich eine Alternative überlegte: eine Flucht vor dem Fest. Zudem hatte er immer den Wunsch, die Kultserie „The Sopranos“ über einen italo-amerikanischen Mafiaclan nachzuholen.

Er hat einfach beides kombiniert. Dafür flog er vom 11. bis 25. Dezember nach Gran Canaria, buchte sich im All-Inclusive-Hotel ein und verbrachte elf Tage mit dem Schauen der sieben Staffeln und 86 Stunden umfassenden Serie, um später darüber zu schreiben. „Ein großes Thema des Romans ist Familie. Auch die Sopranos sind eine Familie, ein krimineller Clan.“ Bei allen tristen Gedankenspielen, die die Isolation hervorruft, Themen wie Einsamkeit oder Depression, biete der Stoff auch Raum für Situationskomik. Durchgehalten habe er in dieser Zeit nur wegen seiner auferlegten Mission. Denn: „Ich würde dringend davon abraten, so etwas zu tun. Mir war klar, dass es ein völlig wahnsinniges Konzept ist.“

Thorsten Nagelschmidt: Einsamkeit an Weihnachten nimmt zu

Welcher der schlimmste Tag war, könne er gar nicht mehr genau sagen, er schätzt Tag acht oder neun. „Nach drei bis vier Tagen setzten Wahrnehmungsverschiebungen ein. Die Gedankenschleifen – abbrechen, weitermachen, abbrechen, weitermachen – beschreibe ich auch im Buch.“ Der Roman verwebt Persönliches mit Gesellschaftlichem. „Der Omnipräsenz von Weihnachten gehe ich auf den Grund. Wer an Einsamkeit leidet, fühlt sich im Jahr nie so einsam wie an Weihnachten. Am 24. mittags zieht sich das ganze Leben ins Private zurück. Es ist das Fest der Kernfamilie, das Fest der Abschottung.“ Besonders in Deutschland sei spürbar, dass man sich nicht nach außen hin öffnen möchte, so Nagelschmidt. Dabei sei diese Art des Feierns nicht immer so gewesen: „Das ist kulturhistorisch gesehen eine relativ neue Erscheinung.“

Auch dieses Jahr ist Nagelschmidt froh über Beschäftigung im Advent. Da kommt ihm seine Tour sehr gelegen, die endet kurz vor Weihnachten. Am 27. Dezember hat er dann den nächsten und einzigen Auftritt in diesem Jahr mit Muff Potter in Berlin. Die Arbeit rette ihn gut durch diese Zeit.