Nach sechs Wochen im Koma und zahlreichen Operationen kämpft sich der Kölner mit Unterstützung zurück ins Leben.
75 Minuten ohne PulsWie der Kölner Sebastian Hafer einen Herzstillstand überlebte

Der Kölner Sebastian Hafer erzählt seine Geschichte. Er überlebte 75 Minuten ohne Herzschlag und lag sechs Wochen im künstlichen Koma.
Copyright: Alexander Schwaiger
Es ist 21.30 Uhr am Montag, 4. November 2024, als Sebastian Hafer plötzlich keine Luft mehr bekommt. Der gebürtige Kölner ist bei seiner Freundin Johanna im münsterländischen Ahaus zu Besuch. „Es wurde immer schlimmer. Ich bin raus in den Garten, mit der Hoffnung, dass ich besser Luft bekomme. Dort habe ich ein, zwei Runden gedreht und bin dann vor der Garagentür zusammengebrochen. Ab diesem Zeitpunkt war ich bewusstlos. Den Rest weiß ich nur aus Erzählungen.“
Hafer hat einen Herzinfarkt. Plötzlich und ohne Vorerkrankung. Er läuft blau an. Wird reanimiert. Erst vom Vater seiner Freundin, dann von den herbeigerufenen Rettungskräften – 75 Minuten lang. In dieser Zeit kommt der Defibrillator achtmal zum Einsatz, weil er immer wieder zu sich kommt, das Kammerflimmern aber direkt wieder einsetzt. „Ich kann von Glück sprechen, dass es die Notärzte so lange versucht haben, sonst wäre ich jetzt nicht mehr hier“, sagt Hafer.
Ohne sofortige Reanimation kaum Überlebenschancen
Er kommt ins Ahauser Krankenhaus. Um seinen Organismus zu entlasten, wird der damals 25-Jährige ins künstliche Koma versetzt. Doch sein Körper hat schon zu lange kaum Sauerstoff bekommen. Die Folge: ein septischer Schock und multiples Organversagen. Die behandelnden Ärzte glauben kaum noch ans Überleben ihres Patienten. Ähnlich wird die Situation in anderen Krankenhäusern eingeschätzt. Hafer muss an eine Herz-Lungen-Maschine, doch 14 damit ausgestattete Kliniken hätten seine Aufnahme abgelehnt, wie er sagt. Allein die Chancen, dass er den Transport überstehe, seien als zu gering eingestuft worden.

Sebastian Hafers Freundin Johanna besuchte ihn so oft es ging im Krankenhaus.
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Den Kölner Intensivmediziner Professor Christian Karagiannidis überrascht das nicht: „Bei Herzstillständen liegt das Überleben ohne sofortige Reanimation bei etwa zehn Prozent“, sagt er. Im Regelfall helfe da auch der spätere Anschluss an eine Herz-Lungen-Maschine nicht mehr. Abgesehen davon fehle es den meisten Krankenhäusern an Ressourcen, eine Herz-Lungen-Maschine so einzusetzen, dass sie etwas bringe, erklärt der Gesundheits-Experte. „Dafür braucht es viel Expertise und ein großes Team, das sich nur darum kümmert.“
Uniklinik Essen übernimmt
Eine medizinische Einrichtung, die darüber verfügt, ist die Essener Uniklinik. „Die haben gesagt: Das ist ein junger Mensch, da probieren wir es auf jeden Fall“, berichtet Hafer. Gut drei Tage nach dem Herzstillstand wird er im sedierten Zustand mit einem Hubschrauber ins Ruhrgebiet geflogen. Dort ereilen ihn weitere Schicksalsschläge: Leberriss, Nierenversagen, Darmblutungen – sieben Mal muss er operiert und zwischenzeitlich erneut wiederbelebt werden. Die Lage scheint hoffnungslos: „Die Ärzte konnten meinen Eltern und meiner Freundin nie sagen, ob ich am nächsten Tag noch da bin.“
Die Ärzte konnten meinen Eltern und meiner Freundin nie sagen konnten, ob ich am nächsten Tag noch da bin.
Insgesamt liegt der 26-Jährige sechs Wochen im Koma. 19 Schläuche versorgen ihn mit Medikamenten. Trotzdem habe er vieles wahrgenommen, erinnert sich Hafer: „Ich hatte starke Alpträume, vom Tod, wo ich dachte, das war es jetzt, und kurioserweise auch von Hubschrauberflügen.“ Beim Blick auf den Puls sei den Ärzten aufgefallen, dass er ruhiger wurde, wenn seine Eltern und seine Freundin anwesend waren. Ein Grund, weshalb sie ihn jederzeit besuchen durften. Als Mitte Dezember die Entscheidung getroffen wird, das künstliche Koma zu beenden, ist nicht absehbar, ob und wenn ja, in welchem Zustand Hafer zu sich kommt: „Es hätte auch sein können, dass ich für immer ein Pflegefall bleibe“, sagt er.
Keine Erinnerungslücken
Den Moment des Aufwachens beschreibt der Kölner als eine Art Schock: „Ich lag da im Krankenhaus und konnte nichts einordnen. Ich hatte 1000 Fragen.“ Doch nach und nach sei er klarer geworden, was auch sein Umfeld bemerkt habe: „Meine Physiotherapeutin meinte einmal zu Johanna: ‚Sag dem Basti mal, er soll dir die Zunge rausstrecken.‘ Das hat sie getan und ich habe das dann auch mit großer Mühe versucht. Da wusste sie, dass bei mir oben was ankommt.“ Als ihm später auch der SIM-Karten-Code des Handys eingefallen sei, habe er langsam realisiert, dass keine Erinnerungslücken vorhanden sind, schildert der 26-Jährige.

Seine rechte Hand kann Sebastian Hafer aktuell nicht bewegen.
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Ein beachtlicher Befund. Solch ein positiver Ausgang sei außergewöhnlich, attestiert Professor Karagiannidis. Andere Kollegen gehen noch weiter: „90 Prozent der Menschen hätten vermutlich nicht mal die 75 Minuten ohne Herzschlag überlebt. Dass ich dann auch noch geistig komplett da bin – wir haben schon von vielen Ärzten gehört, dass das ein medizinisches Wunder ist“, sagt Hafer, der mittlerweile einen Defibrillator implantiert bekommen hat. „Das ist mein kleiner Schutzengel, der passt jetzt auf mich auf.“
Große Unterstützung durch Familie und Freundin
Eine beruhigende Gewissheit für den Kölner: Anfangs habe er nicht allein sein können. Zu groß war die Angst, bei einem erneuten Notfall hilflos zu sein. In der Zwischenzeit sei das, auch aufgrund psychologischer Betreuung, kein Problem mehr. Körperlich ist der Kölner dennoch eingeschränkt. Seine rechte Hand kann er aktuell nicht bewegen, seit den Bauchoperationen benötigt er einen künstlichen Darmausgang. Durch das lange Liegen kam es zum Muskelabbau. Schlucken, sprechen, atmen und gehen – all diese Fähigkeiten habe er sich mühsam wieder antrainieren müssen. „Quasi, als ob der Körper einmal zurückgesetzt wurde.“
Umso dankbarer sei er für die Unterstützung seiner Familie und seiner Freundin Johanna. „Es ist nicht selbstverständlich, dass sie geblieben ist.“ Von seinen Pflegern und Ärzten habe er gehört, dass viele Partnerschaften in so einer schweren Phase zerbrechen, „aber Johanna ist jeden Tag da gewesen und nimmt mich so wie ich bin, mit meinen Schwächen und Handicaps“.
Trotz der Beeinträchtigungen kämpft sich der 26-Jährige in den Alltag zurück. Seine Lebensweise hat sich dennoch verändert. Er nehme sich mehr Pausen und versuche, bewusster mit seiner Zeit umzugehen. Dabei haben sich auch neue Rituale, wie eine morgendliche Andacht, etabliert: „Ich nehme mir bewusst ein paar Minuten, um dankbar in den Tag zu starten. Ich würde schon sagen, dass ich in dieser ganzen Zeit ein Stück weit gläubiger geworden bin. Nicht im klassischen Sinne, dass ich jeden Tag in die Kirche gehe – aber ich habe einen stärkeren Glauben daran entwickelt, dass es ‚mehr‘ gibt und dass mein Überleben kein Zufall war.“
Seit September läuft die stufenweise Wiederaufnahme einer Ausbildung bei der Sparkasse. Nebenbei erzählt Hafer auf dem Instagram-Kanal 75minutenundich von dem zurückliegenden Jahr und von seinem „zweiten Leben“, wie er es nennt.