Zurück zur NormalitätIm Kölner Grüngürtel nähern sich die Menschen wieder an

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Fitnesspark Grüngürtel

Der Fitnesspark im Grüngürtel

  • Hinsetzen, Leute beobachten, Geschichten entdecken. Fotografin Martina Goyert und Autor Uli Kreikebaum hören außerdem zu und fragen nach, schreiben auf. 90 Minuten, irgendwo in Köln.
  • Aus einem anonymen Stadtbild werden Geschichten. Das ist die Idee hinter der Serie „Momentaufnahme“. Die mehrfach preisgekrönte Reihe gibt es als Dossier im Handel und im DuMont-Shop, Breite Straße.
  • Eine Momentaufnahme im Fitnesspark im Grüngürtel.

Köln – 15 Uhr Eine junge Frau geht auf die Fußspitzen, um ihren riesigen Freund zu küssen. Männer und Frauen tanzen auf einer Geburtstagsfeier Salsa. Freundinnen begrüßen sich mit Umarmungen und leisen Nachfragen nach dem Befinden. Menschen, die in der Pandemie ziellos durch die leere Stadt geirrt sind, haben wieder ein natürliches Ziel: andere Menschen. Medienberichte von der grassierenden Delta-Variante des Coronavirus sind an diesem Nachmittag im Juli 2021 im Grüngürtel genauso weit weg wie die Drohung von Wechselunterricht nach den Ferien. Der Park erzählt lieber Geschichten von einer Renaissance der Nähe.

15.07 Uhr Der Geräteparcours hat Fabian in den vergangenen Monaten das Fitnessstudio ersetzt. „Ich habe mich abgemeldet, es war ja ohnehin geschlossen. Hier ist die Atmosphäre viel schöner, man bekommt was zu sehen, manchmal auch ins Gespräch.“

Fabian

Fabian bei einer Pause

Der 27-Jährige hat gerade mehrere Sätze Klimmzüge absolviert, jetzt macht er Liegestütze an einer flachen Reckstange. Seine ausgeprägte Muskulatur berichtet davon, dass er viel trainiert und jahrelang Kampfsport gemacht hat. Fabian betreut schwer behinderte Menschen. „Dass sie nicht mit höchster Priorität geimpft wurden, hat gezeigt, welchen Stellenwert Behinderte in unserer Gesellschaft haben“, sagt er. Ihn habe das genauso geärgert wie „die Jungs, die mitten in einer Welle mit 40 oder 50 Leuten da vorn Basketball gespielt haben“.

15.16 Uhr Andreas hat mitgehört. „Es stimmt“, sagt er, „man hat in der Krise gesehen, wie Menschen ticken: Zum Beispiel, dass viele versucht haben, sich impfen zu lassen, obwohl sie noch nicht dran waren, oder, dass wenig unternommen wurde, um Menschen aus Flüchtlingsunterkünften rauszuholen“.

Der Vater eines Freundes von ihm sei infolge einer Coronainfektion gestorben, sagt Andreas. „Ich habe oft hier trainiert, um mich abzureagieren. Wenn ich nicht schlafen konnte, auch mitten in der Nacht. Die Stimmung ist nachts einmalig hier.“ „Ich komme manchmal, wenn es stark regnet, das ist auch besonders“, sagt Fabian.

15.32 Uhr An den Geräten trainieren ausschließlich Männer, viele von ihnen mit freiem Oberkörper. Bis Elisa beginnt, neben einem Schattenboxer ihre Übungen zu machen. Sie dehnt sich, hüpft von einem Bein aufs andere, macht langsame Push ups, ihr rotes Smartphone gibt die Zeitintervalle vor. Infolge ihrer Schwangerschaft seien die Bauchmuskeln auseinandergedriftet, sagt sie, „sieht man ja, ich sehe aus, als sei ich im dritten oder vierten Monat schwanger“.

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„Rectusdiastase“ heiße das Krankheitsbild, die Übungen würden bei der Rückbildung helfen. Im Buggy wacht der zweijährige Nahuel auf und will auf Mamas Arm. Elisa kommt mit ihrem Mann Reinaldo und Nahuel fast täglich in den Park. Die Familie ist vor vier Monaten aus Chile nach Köln gezogen, „weil es in Santiago de Chile soziale Unruhen gibt und es für Minderheiten, zu denen auch mein Mann zählt, gefährlich geworden ist“, sagt sie. Sie habe in Santiago als Yogalehrerin gearbeitet und gut verdient, die Inflation aber habe das Leben teuer gemacht und die politische Situation unsicher. „Da Chile geopolitisch keine Bedeutung hat, interessiert sich die Öffentlichkeit für die Menschenrechtsverletzungen dort leider nicht. Null.“

Elisa plant jetzt eine Umschulung zur Lehrerin: Yogastudios gebe es schon zu viele, und „einige von ihnen werden die Krise nicht überleben“.

15.52 Uhr Roman setzt sein Basecap ab und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Den Fitnesspark habe er vor drei Monaten entdeckt, sagt er, „die Jungs, die hier trainieren, sind im Schnitt zehnmal fitter als im Fitnessstudio, das ist schön anzusehen und motiviert mich auch“.

Roman

Roman hat den Parcours in der Pandemie entdeckt.

Roman ist 55, sein glatter, mit Sommersprossen übersäter Körper sieht jünger aus. „Meine Großeltern und Urgroßeltern sind alle mindestens 95 geworden“, sagt er. „Man muss was tun, um fit zu bleiben.“

16.01 Uhr Fit bleiben kann man mit 20 Klimmzügen und 20 Dips am Barren wie Jean, der vor dem Basketballtraining „ein kleines Workout“ absolviert. Es geht mit stundenlangem Salsa tanzen wie Hippolyto es tut, die mit Freunden ihren 45. Geburtstag feiert. Eine Alternative ist Handstand auf einer Hand als Vorübung zum Powermove „Airflare“, den (ein anderer) Fabian auf der Hartschaummatte des Parcours für ein Hip-Hop-Battle übt. Tanzlehrer Fabian beherrscht seinen Körper so gut, dass eine Gruppe Kölsch trinkender Picknicker staunt und klatscht.

16.12 Uhr Fit ist auch Sportstudent Marc (22), der mit seinem Cousin Jakob Volleyball spielt.

Jakob Marc

Cousins Jakob und Marc 

Marc studiert in Kiel und geht dort Kitesurfen, er spielt Beachvolleyballturniere, schwimmt und geht in einen Fitnesspark, „in dem viel mehr Frauen sind als hier“. Momentan plagen ihn Knieschmerzen: „Vielleicht zu viel Beachvolleyball.“

16.27 Uhr Renaissance der Nähe, das gilt auch für die kleinen Begegnungen, die Corona verhindert hat. Polly (4) hat beim Trampolinspringen Sophia (7) kennengelernt, beim Hüpfen nehmen sich die beiden an die Hand.

Polly

Polly auf dem Trampolin

Die Freunde Olexandr und André sitzen auf der Bank im Fitnesspark ein bisschen näher zusammen als noch vor ein paar Monaten.

Oleaxndr André

Olexandr und André lieben den Park

Großvater Ewald hält seine Enkelin Leonie (4) an der Hand, als diese über einen Balken balanciert.

Leonie

Leonie mit ihren Großeltern

Marc glaubt zwar, dass „das Händeschütteln die Pandemie nicht richtig überleben wird“, umarmt seine Cousinen aber, die zum Picknicken kommen. Auf dem nahen Wasserspielplatz toben die Kinder im Pulk, ganz im Moment, den manche Eltern beim Smartphonewischen verpassen.  

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