Unser Kolumnist schwelgt zum Beginn der Sommerferien in Erinnerungen.
Ortheils KolumneAls die großen Ferien noch bei den Verwandten auf dem Lande stattfanden

Ahnungslos bewegten wir uns in den vormedialen Zeiten auf nachrichtenarmen Inseln.
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Als Kind der Fünfzigerjahre erinnere ich mich gut an die Zeiten der „Großen Ferien“. Schon der Gedanke daran euphorisierte, handelte es sich dabei doch um eine kleine Ewigkeit. Ein Ende war zu ihrem Beginn nicht in Sicht, und auch über ihren Verlauf wusste man nur, dass sie auf dem Land stattfinden würden.
Man musste also umsiedeln, oft zu Verwandten, die in ganz anderen Welten mit fremden Dialekten lebten, einen laufend verwechselten und deutlich spüren ließen, wovon man als Städter rein gar nichts verstand. Kühe auf der Weide hielt man für kaum durchschaubare Ungeheuer und blieb zu ihnen auf Distanz, und wenn man mit anderen Kindern im Wald unterwegs war, stellte einen jedes Hindernis vor eine sportliche Herausforderung.
Man sollte natürlich, locker und unbekümmert sein, dabei war man all das gerade nicht, da man peinlich untrainiert war und die lästigen Themen und Sorgen der Stadt im Kopf hatte.

Hanns-Josef Ortheil
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Das Gute an der Umsiedlung war höchstens, dass man die Klassenkameraden mit der Zeit vergaß. Eine Weile dachte man nicht mehr an sie, denn sie waren in ferne Ländereien entflogen und würden später mit lauter Geschichten zurückkehren, die sie für abenteuerlich hielten. Abenteuer hätten wir auf dem Land auch gerne erlebt, was zwischen Kornfeldern und Kuhweiden aber nicht einfach war.
Fußballspieler fuhren unanständig teure Autos und lebten schwer überdreht.
Zu einem Abenteuer gehörten böse und gute Welten, deutlich getrennt und in fortdauernde Kämpfe verwickelt. Sie wurden von Anführern und Begleitfiguren bestritten, deren strenge Hierarchien wir nur aus Büchern kannten. Von einem solchen Dasein konnten wir nur träumen, was auf dem Land zu den Tätigkeiten gehörte, die von den Älteren nicht gerne gesehen wurden.
Geriet man nämlich ins Fantasieren und saß einige Momente apathisch und von Langeweile erschöpft auf dem Hof, bekam man zu hören, dass er noch nicht gekehrt war. Und trat man gegen einen Ball, um ein kurzes Training zu absolvieren, wurde uns erklärt, dass wir unsere zukünftige Existenz nicht durch Fußballspielen bestreiten könnten. Fußballspieler fuhren unanständig teure Autos und lebten schwer überdreht, wir aber sollten uns ein Vorbild an der Schlichtheit des Landes nehmen, wo Fußballvereine in ihren Ligen schon aus Prinzip nicht aufstiegen, sondern jahrzehntelang im Mittelfeld geduldig verharrten.
In den Großen Ferien erlebten wir die Schönheit der Zeitlosigkeit.
Um diese Schlichtheit zu bewahren, hielt sich auch das Unterhaltungsangebot des Landes in Grenzen. Ein Grundgesetz schrieb vor, dass Kinder „sich selbst beschäftigten“ und keine Flausen im Kopf hatten. Übersetzt bedeutete es, dass wir eine Freude am Nichtstun und kleinen, unschuldigen Spielen entwickeln sollten. Aus winzigen Stöcken ließen sich Schiffchen und Boote formen, die man in den dafür vorgesehenen Bächen stundenlang um die Wette treiben ließ. Und aus größeren Ästen konnte man Baumhäuser und Hütten bauen, deren Bestandteile sich beim nächsten Sturm in alle Winde verstreuten und darauf warteten, wieder eingesammelt und erneut zusammengebaut zu werden.
Noch begriffen wir nicht, was es bedeutete, dass die Zeiterfahrung auf dem Land eine zyklische war, die sich den Jahreszeiten anpasste. Und noch hatten wir kein Empfinden dafür, dass wir in den Großen Ferien die Schönheit der Zeitlosigkeit erlebten. Ahnungslos bewegten wir uns in den vormedialen Zeiten auf nachrichtenarmen Inseln, auf denen die Tiere in der Luft und auf den Feldern einen irritierenden Zauber ausstrahlten und jeder Schrei eines Raubvogels wie ein dämonisches Kreischen erschien.
Mit den Jahren wurde uns das alles zu viel, und man konnte uns nicht mehr auf das Land locken. Stattdessen blieben wir in überhitzten Städten und überließen das Unterhaltungsprogramm den Taschenradios. Es bestand vor allem aus Sport, Werbung und Wettervorhersagen, und wir waren stolz, jeden Tag „auf dem neuesten Stand“ der Dinge zu sein. Bis der Klimawandel uns wieder aufs Land reisen ließ, gnadenlos belehrt und bescheidener geworden.