Analyse des ESC-DebakelsSieben Gründe, warum Deutschland wieder Letzter wurde

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Die Punkteausbeute war bescheiden: Lord Of The Lost aus Deutschland belegten beim 67. Eurovision Song Contest (ESC) den letzten Platz.

Die Punkteausbeute war bescheiden: Lord Of The Lost aus Deutschland belegten beim 67. Eurovision Song Contest (ESC) den letzten Platz.

Mit lautem Glamrock wollte Deutschland endlich mal auffallen beim Eurovision Song Contest. Das gelang nicht. Eine Suche nach Gründen.

Stell dir vor, Europa feiert eine Party – und Deutschland guckt nur zu: Die Durststrecke beim Eurovision Song Contest will einfach nicht enden. Wieder ein letzter Platz beim ESC in Liverpool für den deutschen Beitrag. Nur mickrige drei Punkte gab es von den 37 internationalen Jurys – und gerade einmal 15 vom Publikum für die fünf Hamburger Glamrocker Lord of the Lost und ihre Rocknummer „Blood & Glitter“. Das war keine Niederlage. Das war ein Debakel. Schon wieder.

Und dabei war die deutsche Delegation so hoffnungsfroh in den Wettbewerb gegangen. Endlich mal ein deutscher Act, der ein bisschen auffällt. Der sich abhebt, weil er unerwartet kommt. Vor allem eines strahlte die deutsche Delegation in der Nacht nach der Show deshalb aus: Ratlosigkeit.

„Ich hoffe, ganz ehrlich, wir werden nie erfahren, wie es ist, Letzter zu sein“, hatte Frontmann Chris Harms vor der Show dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) gesagt. Dann aber passierte genau das: letzter Platz. Höchststrafe. Und Harms mühte sich, Worte zu finden. „Natürlich ist das hart“, sagte er nachts um 2.15 Uhr in einem Hinterzimmer der Liverpooler Arena. „Und wir haben wirklich nicht damit gerechnet, Letzter zu werden. Aber wir kommen nicht aus dem Nichts – und wir gehen nicht ins Nichts zurück. Wir machen jetzt einfach weiter.“ Dann gab Harms auch noch der schwedischen ESC-Siegerin Loreen im Moment ihres größten Triumphes einen kleinen Dämpfer mit. Er möge zwar ihren Song, sagte er, aber er hätte sich doch gewünscht, dass Finnland gewinnt.

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Zwei vorletzte Plätze – dann zwei letzte Plätze. Viel schlechter hätten die vier vergangenen Jahre beim ESC für Deutschland kaum laufen können. Gewiss: Es ist kein reines Sportereignis. Platzierungen sind aber Teil des Spiels. Und sie verraten am Ende ziemlich eindeutig, was Europa gefiel und was nicht. Warum hat der Song nicht verfangen? Warum interessierten sich weder Europas Jurys noch die Zuschauerinnen und Zuschauer in 37 Ländern für die Glamrock-Nummer „Blood & Glitter“? Erklärungen fand weder der zuständige Norddeutsche Rundfunk noch die Band. „Das können wir nicht einschätzen“, sagte Harms kurz. Punkt. Der NDR schwieg vollständig. Das Rätselraten ist in vollem Gang.

Die Suche nach Gründen führt zu sieben Faktoren, die einen Hinweis geben könnten, warum der deutsche Beitrag auch diesmal sang- und klanglos unterging:

Grund 1: Es war nicht (schon wieder) das Jahr für Latexrocker mit Kajalaugen

2021 gewann die italienische Rockband Måneskin in Rotterdam in grellem Tuch und mit viel Kajal um die Augen den Eurovision Song Contest. Das ist erst zwei Jahre her. Für Ohren und Augen von Mainstream-Zuschauerinnen und ‑Zuschauern, die nur diese 180 Sekunden haben, um sich einen Eindruck zu verschaffen, könnte Lord of the Lost (LOTL) wie eine Kopie der charismatischen Italiener gewirkt haben – auch wenn ihr Stil deutlich abweicht. LOTL ist gewiss kein Måneskin-Nachbau. Auf den ersten Eindruck aber – und auf den kommt es an – fühlt man sich an die Italiener erinnert.

Grund 2: Ein Wagnis einzugehen garantiert allein noch keinen Erfolg

Man freute sich beim NDR relativ offensiv, in diesem Jahr einen Beitrag ins Rennen geschickt zu haben, der sich optisch und akustisch mal abhob vom vergleichsweise artigen Mainstreampop ohne Ecken und Kanten der Vorjahre. Eine Band, die auch optisch etwas hermacht. Doch die Erregung von öffentlicher Aufmerksamkeit kann nur der erste Schritt sein. Irritieren per se hat noch keinen Wert. Ecken und Kanten sind prima – doch der Beitrag muss dann auch verfangen. Es genügt nicht, stolz zu melden: „Guckt her – wir sehen echt anders aus!“ Künstlerisch ins Risiko zu gehen ist aller Ehren wert. Doch was dann kommt, muss eben auch sitzen. LOTL traten in Liverpool sehr freundlich und interessiert auf, aber zum Teil auch ein bisschen breitbeinig. Der Tenor war: Wir brauchen das hier nicht. Wir sind mit Iron Maiden auf Tour. Wir haben eine Karriere.

Grund 3: Lord of the Lost war kein sonderlich starker Act

Was bleibt musikalisch im Ohr von diesem Song Contest? Das gewaltige „Cha Cha Cha“ des Finnen, der ansteigende Refrain von Loreens „Tattoo“ – aber eher nicht „Blood & Glitter“. Alternative Rock hat es schwer beim Song Contest. Und LOTL erwischten ein Jahr, in dem der Kontinent klar auf Party gepolt war: eben mit dem finnischen Publikumsliebling Käärijä und seinem „Cha Cha Cha“, mit „Unicorn“ von Sängerin Noa aus Israel. Und dann kommen da fünf Kerle aus Deutschland, die doch sehr düster und erratisch wirken – ohne dabei den Humor etwa von Lordi auszustrahlen.

„Blood & Glitter“ war sicher nicht das langweiligste Lied des Abends. Insofern ist die Platzierung schon eine Überraschung. ESC-Zuschauerinnen und ‑Zuschauer müssen aber in den ersten Sekunden klar erkennen können, warum sie jemanden wählen sollen. Lord of the Lost boten einfach nicht genügend gute Gründe. Oder wie Chris Harms selbst vor dem ESC sagte: „Nur mit Feuer und Make-up rührt man keine Herzen.“

Grund 4: Oder straft Resteuropa die Strebernation Deutschland doch gern ab?

„Keiner mag uns!“ – der Eindruck hält sich hartnäckig beim deutschen Eurovisions-Publikum. Tausende Social-Media-Kommentare werden auch diesmal wieder dem Irrglauben Flügel verleihen, dass der Kontinent latent genervt sei vom großen, selbstgefälligen Deutschland. Nach zwei vorletzten und zwei letzten Plätzen am Stück könnte man versucht sein, die Frage zu stellen, ob möglicherweise etwas dran ist an der Vermutung.

Die Wahrheit ist jedoch: Wenn Deutschland ein Lied ins Rennen schickt, das perfekt den Zeitgeist spiegelt, oder einen Künstler oder eine Künstlerin, in den oder die sich ein ganzer Kontinent in Sekunden sturzverliebt – dann wird kaum jemand sagen: „Nein, das kommt aus Deutschland, dafür vote ich nicht.“ „Blood & Glitter“ war dieser Song einfach nicht. Und Lord of the Lost waren diese Künstler nicht. Es ist aber, zugegeben, auch schwer, einen solchen Act zu finden.

Grund 5: Es geht nur am Rande um Musik beim ESC

Das Publikum in Europa stimmt nicht für einen prima Popsong. Es stimmt für einen Moment des Staunens. Es belohnt Künstlerinnen wie Loreen, deren Charisma Kameralinsen überwindet. Es geht um nichts als Emotionen. Lord of the Lost lösten diese nicht aus. Sie wirkten seltsam altmodisch in diesem Umfeld – mit einer Komposition, die gewiss loyale, treue Fans glücklich macht, aber nicht genügend Anknüpfungspunkte für den Normalverbraucher bot.

Dabei geht es nicht zwingend um hochmoderne Popmusik. Der Portugiese Salvador Sobral gewann 2017 mit einem anachronistischen Chanson. Warum? Weil er Millionen verzauberte, die sich fragten: Wer ist der Mann und was tut er da? Das fragte sich bei Chris Harms niemand. Und wenn doch, dann nicht aus den richtigen Gründen.

Beim ESC gewinnen Künstlerinnen und Künstler, die eine Geschichte mitbringen, die sich sofort erschließt. Die Geschichten der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren zuletzt entweder konstruiert (Sisters), unklar (Jamie-Lee), anstrengend (Ann-Sophie, Jendrik) oder ziemlich egal (Levina, Cascada, Elaiza, Malik Harris und leider auch Lord of the Lost).

Grund 6: Erfolgreich ist das Besondere – nicht das besonders Auffällige

Loreens Tanz unter der Riesensonnenbank, der Finne mit den grünen Hulk-Puffärmeln, die perfekt tanzende Israelin – sie alle fielen auf. Aber sie verfügten darüber hinaus auch noch über eine andere Qualität: Sie lieferten etwas Besonderes. Lord of the Lost versuchten das mit den Mitteln des Dramas.

Doch ihr Act wirkte offenbar auf viele Zuschauerinnen und Zuschauer, als wollten sie um jeden Preis anders sein. Die wenigsten der 200 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer des ESC wussten, dass die Band immer so aussieht – dass das seit Jahren ihr Stil ist. Dass sie mit dieser Musik erfolgreich sehr viele Menschen glücklich machen. Sie sahen nur fünf Männer in engen Hosen mit Glitzer an der Backe.

Grund 7: Es fehlt weiterhin die letzte Leidenschaft

Um zu gewinnen, muss man gewinnen wollen. Stattdessen betonen deutsche ESC-Teilnehmende seit Jahren beharrlich, es gehe ja gar nicht ums Gewinnen. Gewiss trieb sie stets die Einsicht, dass die Prognosen nicht sonderlich verheißungsvoll klingen, zu dieser Demut. Doch der Impuls, wirklich gewinnen zu wollen, muss viel früher einsetzen: bei der Suche nach dem geeigneten Act. Es gibt bei den deutschen ESC-Bemühungen eine gewisse Tendenz zur Augenwischerei. Man versichert sich unter dem Eindruck schmeichelnder ESC-Kolleginnen und ‑Kollegen in der Eurovisions-Blase gern, dass der deutsche Beitrag „im Prinzip“ schon irgendwie toll und richtig war, von Europa aber leider nicht verstanden wurde. Oder dass die Kameraführung mies, der Startplatz gemein und die Votingregeln unbarmherzig seien.

Das ist nicht komplett falsch. Wer beim ESC in 37 Ländern auf dem elften Platz landet, steht am Ende mit null Punkten da. So ist die Regel. Es bekommen nur die ersten zehn Punkte. Das ist bitter. Aber Selbstmitleid führt auf Dauer zu nichts. Der NDR versteht den ESC als „nice to have“ (beziehungsweis im Moment eher als „not nice to have“), aber er hat – so ehrlich muss man sein – derzeit keine rechte Idee für die paneuropäische Sause. Die Formatradiosender mit in die Kandidatenfindung einzubinden, führte jedenfalls (erneut) ins Nichts. So langsam fehlt einem die Fantasie, sich vorzustellen, mit welchem Mitteln der NDR diese Misere beenden könnte. Gesucht wird: ein Neuanfang.

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