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August Sander
Die Auszubildende und das Genie

8 min
Das Ehepaar Wilhelmine und August Sander, dem weltbekannten Fotografen.

Das Ehepaar Wilhelmine und August Sander, dem weltbekannten Fotografen. 

Die Suche nach dem Leben der Mutter, die sie als Kind so schmerzlich vermisst hat: Bei ihrer leidenschaftlichen Recherche in der Vergangenheit landete die Kölnerin Susanne Eschrich bei einem Helden und beim weltbekannten Fotografen August Sander.  

Als Susanne Eschrich, damals 56 Jahre alt, im April 2015 auf der „Art Cologne“ die Fotos aus Kuchhausen sieht, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Unter all den Ausstellern, 209 aus 23 Ländern, angereist mit moderner Kunst und den Stars von morgen, hat sie auf der Kölner Mutter aller Kunstmessen einen alten Meister entdeckt.

Und einen Ort, den sie aus ihrer Kindheit kennt. Den 100-Einwohner-Flecken im Rhein-Sieg-Kreis, ein Ortsteil der Gemeinde Windeck im nördlichen Westerwald mit geheimnisvollem Basaltkrater, abgebildet vom weltbekannten Fotografen August Sander. Der Kölner Meister hatte 1942, als die Bombenangriffe auf die Stadt immer schlimmer wurden, seinen Wohnsitz ins ruhige Kuchhausen verlegt.

Wegen der Bombengriffe der Alliierten von Köln auf's Land geflohen

„Da hat die Mama doch ihre Ausbildung als Fotografin gemacht“, schießt es Eschrich durch den Kopf. Ein Moment, den sie nie vergessen wird. Der Startpunkt einer jahrelangen Reise in die Vergangenheit ihrer Mutter, die sie als Kind so sehr vermisst hat. Eine leidenschaftliche Recherche, die bei einem Helden landet, bei spektakulären bisher noch nicht gesehenen Aufnahmen, einer geplanten Ausstellung und die wesentlich auch mit dem Weltstar August Sander zu tun hat.

Susanne Eschrich mit einem Sander-Portrait ihres Urgoßvaters Johann Loosen, der gegen die Nazis gekämpft hat.

Susanne Eschrich mit einem Sander-Portrait ihres Urgoßvaters Johann Loosen, der gegen die Nazis gekämpft hat.

Als Susanne Eschrich 1959 zur Welt kommt, ist ihre Mutter Inge 26 Jahre alt und lebt in Hamburg. Der Liebe wegen ist sie, nachdem die erste Ehe nach etwa acht Monaten gescheitert war, von Köln-Sülz hierhergezogen und hat geheiratet. Aber auch die zweite Ehe scheitert und die sechsjährige Susanne wird zur Oma nach Köln verfrachtet, nachdem sie übergangsweise in einem Kinderheim untergebracht wird. Ihr jüngerer Bruder bleibt beim Vater in Norddeutschland.

Nur sporadisch Kontakt zur Mutter gehabt

„Die Mama hatte es wohl schwer als junge Frau, so als Geschiedene, bei den damaligen Moralvorstellungen“, versucht Eschrich das Versagen der Frau zu erklären, die sie zur Welt gebracht, sich dann nach dem Ehe-Aus nur noch selten um sie gekümmert hat. Aber immerhin, die Mutter bekommt 1965 einen Job in Köln und ist bereits da, als die Tochter aus dem Heim kommt.  „Kurioserweise waren wir dann Nachbarn, wohnten auf dem gleichen Stockwerk“, sagt Eschrich.

„Trotzdem hatte ich nur sporadisch Kontakt“, ergänzt die Kölnerin. Denn die Mutter habe im Schichtdienst als Fotolaborantin beim Dumont-Verlag oft bis spät abends arbeiten müssen. „Sie war eher wie eine Freundin für mich, nicht wie eine Mama.“

Inge Jansen, die Mutter von Susanne Eschrich, als junge Frau.

Inge Jansen, die Mutter von Susanne Eschrich, als junge Frau.

Im April 2007 stirbt Inge Jansen, ihre Tochter begleitet sie bis zum letzten Atemzug. Den überschaubaren Nachlass mit Fotoalben, einer Reihe von Negativen und ein paar Unterlagen sortiert die Tochter grob und deponiert den wichtigsten Teil in einem Banksafe. In einem Safe? „Ja, ich wollte, dass das Material sicher ist, wohl um es mir irgendwann einmal genau anzuschauen, vor allem die vielen Foto-Negative“, sagt Eschrich. Mittlerweile selbst alleinerziehende Mutter eines Sohnes, fehlt ihr damals noch die Zeit und Energie, um tief einzusteigen in das Konvolut.

Der Moment, der ihr Leben veränderte

Sind es die schweren Tage der Kindheit, die ihr acht Jahre später auf der Art Cologne schlagartig klar machen, dass jetzt die Zeit gekommen ist, sich das Leben der eigenen Mutter genauer anzuschauen? Der Wunsch, eine Erklärung dafür zu finden, warum sie als kleines Mädchen alleine zur Oma musste? „Wer weiß das schon?“, fragt Susanne Eschrich und zuckt mit den Schultern.

Auf der Art Cologne spricht sie damals lange mit dem Wiener Galeristen, der die Sander-Fotos mitgebracht hat. Sie erzählt davon, dass die Mutter beim Kölner Weltstar gearbeitet und in dieser Zeit natürlich auch selbst fotografiert hat. Der Galerist ist überrascht. Und interessiert an den Bildern.

Akribische Suche nach der Wahrheit

Es ist, als ob ein Schalter umgelegt wird. Die Fotos sind das eine. Das Gespräch bestärkt Susanne Eschrich aber vor allem in dem Gefühl, es jetzt endlich wissen zu wollen. Nein, wissen zu müssen, wie das früher war, für die Mutter. „Wie es ihr ging in Kuchhausen und was da passiert ist. Auch weil ihr Leben hinterher mit Scheidung und so weiter nicht mehr so glücklich verlaufen ist.“

Der weltbekannte Fotograf August Sander ohne Kappe, wie er sich ansonsten kaum hat ablichten lassen.

Der weltbekannte Fotograf August Sander ohne Kappe, wie er sich ansonsten kaum hat ablichten lassen.

Die akribische Suche nach der Wahrheit wird zur Reise in die eigene Familiengeschichte. Schon der Urgroßvater mütterlicherseits, der Steinmetz Johann „Jean“ Loosen, hatte während der Nazi-Zeit Kontakt zur Familie Sander. Eschrich recherchiert im El-De-Haus, dem Kölner Nationalsozialismus-Dokumentationszentrum, und spricht mit dem Historiker Fritz Bilz. Der hat mit seiner Frau das Buch „Diesen Menschen hat man mir totgeschlagen“ geschrieben, in dem Johann Loosen erwähnt wird.

Der Urgroßvater, der ein Held war

Der gehört in den 1920er Jahren mit August Sander zu den Progressiven, einer avantgardistischen Gruppe bekannter Künstler. In den 1930er Jahren ist er Freund und Kampfgenosse von Sanders Sohn Erich. Sie sind Mitglieder der SAPD (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschland), die sich am Widerstand gegen das NS-Regime beteiligte. Beide werden verraten und wegen Hochverrats verurteilt.

Erich Sander, der zehn Jahren „Zuchthaft“ bekommt, stirbt Ende 1944, kurz vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Loosen, der nur zwei Jahre Haft bekommen hatte, weil die Gestapo ihm lediglich den Bezug von acht Ausgaben revolutionärer Zeitschriften nachweisen konnte, überlebt das Martyrium und taucht nach der Entlassung bis Kriegsende unter.

Die Ausbildung beim Weltstar

„Mein Urgroßvater war ein unbeugsamer Mann, auf den ich stolz bin“, sagt Susanne Eschrich. „Ein Held.“ Breitbeinig und mit unerschrockenem Blick lichtete August Sander den Freund für seine ikonografische Serie „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ab.  Auch die Mutter ist nach ihrer Scheidung durch den Urgroßvater wohl zum weltbekannten Fotografen vermittelt worden, vermutet Eschrich.

Neben ihrer Ausbildung bei August Sander hat Inge Jansen auch selber fotografiert: Hier eine Schafherde in einem Dorf im Rhein-Sieg-Kreis.

Neben ihrer Ausbildung bei August Sander hat Inge Jansen auch selber fotografiert: Hier eine Schafherde in einem Dorf im Rhein-Sieg-Kreis.

Inge Jansen ist von 1953 bis 1955 Auszubildende bei Sander, lebt mit dem Ehepaar unter einem Dach. Fotos zeigen sie bei Familienfesten oder am Küchentisch. Parallel zu ihrer Ausbildung fungiert sie als Assistentin des Meisters, hilft ihm bei der Vollendung seiner Projekte. „Sie versteht es bei guter Beurteilung Vergrößerungen zu machen“, heißt im Zeugnis, das Sander ihr ausstellt. Es sei schade, dass die junge Frau sein Atelier nach der Hochzeit verlasse, um „einen Haushalt“ zu gründen. „Es ist bedauerlich, dass die Zeit so kurz war, denn ihre Möglichkeiten waren aussichtsreich in der Landschafts- und Portraitphotographie“, schreibt Sander.

Ein Lob vom Weltstar

„Ein Lob, das so ein Genie bestimmt nicht oft verteilt hat“, erinnert sich Susanne Eschrich, sichtlich stolz auf die Mutter. Über den Historiker Bilz bekommt sie 2015 Kontakt zum Sander-Enkel Gerd. „Ich weiß noch genau, wie das erste Treffen verlaufen ist“, erzählt sie. „Nein, nein, ich bin der Gerd“, sagt Sander, als Eschrich ihn bei der Begrüßung vor der Sparkasse in Köln-Sülz siezt. Er habe lange nach ihrer Mutter gesucht, die in der Kuchhausen-Zeit wie eine große Schwester für ihn gewesen sei.

Neben ihrer Ausbildung bei August Sander hat Inge Jansen auch selber fotografiert: Hier sind es Landwirte im Morgennebel bei der Fahrt zur Arbeit.

Neben ihrer Ausbildung bei August Sander hat Inge Jansen auch selber fotografiert: Hier sind es Landwirte im Morgennebel bei der Fahrt zur Arbeit.

Danach gehen die beiden im Tresorraum der Sparkasse die Unterlagen und Fotos durch, die Eschrich dort deponiert hat. Und es gibt einiges, was der verblüffte Sander-Erbe zuvor noch nie gesehen hat. Die Negative der damaligen Auszubildenden etwa: August und Anna Sander auf einer Bank, ihr Garten, das Haus, ihre beiden Schäferhunde Dina und Hasso, den vom alten Ehepaar dressierte Rabe „Köbes“, eine Dorfkirmes und eine Reihe von Landschaftsaufnahmen aus der Umgebung.

Auch bis dato unbekannte Sander-Originale, die der Mutter von Susanne Eschrich überlassen wurden, gibt es. Aufnahmen vom alten Köln beispielsweise, eine Collage mit Karnevalsmotiven, der Blick auf den Rhein von der Insel Nonnenwerth aus, Fotos vom Rheintal, von Pflanzen, dem ehemaligen Kloster Wolkenburg, dem Siebengebirge und dem Drachenfels.

Zwölf Foto-Negative von August Sander geerbt

„Insgesamt zwölf Bilder, von denen ich die Hälfte im Laufe der Jahre vor allem für die Ausbildung meines Sohnes verkauft habe“, sagt Eschrich. Je mehr Informationen sie damals bekommt, desto mehr Neues entdeckt sie in den Unterlagen der Mutter. „Ich habe die Dinge mit anderen Augen gesehen.“ Da ist etwa das Foto der Oma, das sich, als sie es umdreht, als Postkarte entpuppt, die dem inhaftierten Urgroßvater 1936 als Liebesgruß ins Nazi-Gefängnis geschickt wurde, um ihm Mut zu machen. 

Die Foto-Postkarte, die Aenne Jansen ihrem Vater ins Nazi-Gefängnis geschickt hat.

Die Foto-Postkarte, die Aenne Jansen ihrem Vater ins Nazi-Gefängnis geschickt hat.

„Es waren diese Momente, in denen ich erst erkannt habe, welchen Schatz ich geerbt hatte.“  Neben Berührendem entdeckt Eschrich auch Kurioses. Auf der Homepage des Paul-Getty-Museums in Los Angeles findet sie in dessen Sander-Sammlung ein Foto von einem Mädchen und zwei Pferden bei der Heuernte, das ihr merkwürdig vorkommt.

Foto der Mutter in Getty Museum gefunden

„Die Aufnahme passte zu einer Serie, die meine Mutter gemacht hat“, erinnert sich Eschrich: „Und ich hatte zudem das Negativ.“ Auch Gerd Sander, mit dem sie sich berät, sieht die Ähnlichkeit. Und gesteht, dass er sich immer schon gefragt habe, ob das Bild zur Fotosprache seines Großvaters passt. Weil schließlich auch das Getty-Museum überzeugt ist, dass die Aufnahme von Inge Jansen stammt, wird das Foto aus der Sammlung genommen.

Die Reise in die Vergangenheit ist für Susanne Eschrich auch heute noch lange nicht zu Ende. Gerade beispielsweise war sie wegen einer weiteren Entdeckung in Hamburg. Das „Museum für Kunst & Gewerbe“ besitzt ein Sander-Foto mit ihrer Mutter und Oma, als diese1954 zu Gast in Kuchhausen war, vermutlich um die in Ausbildung befindliche Tochter zu besuchen.

Große Ausstellung in Köln geplant

Das Museum hat ihr die Bilddatei und noch ein weiteres Foto des Großmeisters, auf dem Inge Jansen zu sehen ist, zur Verfügung gestellt. „Es sind diese Momente, die mich glücklich machen“, sagt Susanne Eschrich. Eine Bilder, die ihre Mutter gemacht hat, hat sie im Frühjahr 2024 schon einmal in der Nähe von Kuchhausen gezeigt. Und im Januar kommenden Jahres ist im Kölner Stadtteil Sülz eine große Ausstellung mit den Aufnahmen geplant.

Das Zeugnis, das August Sander für seine Auszubildende Inge Jansen geschrieben hat.

Zeugnis für Inge Jansen von August Sander

„Hier, wo auch mein toller Großvater gelebt hat, schließt sich der Kreis dann für mich“, sagt Eschrich: „Und ich möchte die Mama ehren, für das, was sie geleistet hat.“ Die Mutter ehren, die nur wenig Zeit für sie gehabt hat? Susanne Eschrich überlegt einige Momente, bevor sie antwortet. „Ich bin schlecht“, habe die Mutter wenige Tage vor ihrem Tod im Krankenhaus Weyertal urplötzlich gesagt. „Warum sagt eine Sterbende so etwas?“ habe sie sich gefragt, anstatt die Betroffene selbst zu fragen.

„Ich glaube, sie hatte ein schlechtes Gewissen, wegen meinem Bruder und mir“, mutmaßt Eschrich. Ihre Bilder auszustellen, ist das dann vielleicht auch eine Art des Vergebens? „Es ist eine Möglichkeit für mich abzuschließen, meinen inneren Frieden zu machen“, sagt die Kölnerin. „Mit etwas Schönem.“