Boris Beckers Autobiografie „Inside“ ist Hollywood-Kino, das von den inneren Kämpfen und der Widersprüchlichkeit des deutschen Superstars erzählt. Am 21. Oktober kommt Becker zur lit.Cologne Spezial nach Köln.
Autobiografie „Inside“Ein Held muss Boris Becker nicht mehr sein

Boris Becker bei der Vorstellung seiner Biografie im August
Copyright: IMAGO/NL Beeld
Nach dem ersten Satz, dem zweiten, dritten, vierten, fünften denkt man: Das ist doch nicht Boris Becker. Boris Becker, das war immer Bumm-Bumm: Aufschlag, Volley, Faust und Schreie auf dem Platz, solider Kommentator, nicht gar so solider Unternehmer und schillerndes Privatleben jenseits des Platzes. Und dann kommt der Boris Becker aus „Inside“, seiner neuen Autobiografie, der bis ins kleinste Detail die Geräusche inside Knast und inside Tennisplatz beschreibt, ein bisschen Paulo Coelho, ein bisschen Zen-Buddhist, dem kein Wispern und kein Seufzen entgeht. Nachdenklich, poetisch. What?
Kein schlechter Dichter, der Ghostwriter, vielleicht, schießt es einem durch den Kopf, trifft nur den Ton von Becker nicht, den man seit 40 Jahren aus seinen Interviews kennt, mit Ähs und Ahs charmant haspelnd als 17-jähriger Tennisheld, unterhaltsam und kompetent bis heute als Tennisexperte. 1986 – er war gerade 18 und hatte zum zweiten Mal Wimbledon gewonnen, den prestigeträchtigsten Titel im Tennis – war die erste Biografie über Boris Becker erschienen, ein Bildband, erzählt angeblich von seinem ersten Trainer Günther Bosch, im Hintergrund hatte der jüngst verstorbene Franz Josef Wagner die Feder geschwungen.

Boris Becker mit seiner Lebensgefährtin Lilian de Carvalho Monteiro vor der Strafmaßverkündung in seinem Insolvenzverfahren in London im April 2022
Copyright: Victoria Jones/PA Wire/dpa
Das Buch stand in meinem kleinen Bücherregal, wie alle Deutschen wollte ich alles über Boris Becker aufsaugen, und Wagner servierte es süß und süchtig machend. Kurze Sätze, viel Gefühl. So wie er auf dem Platz auch war. Boris, der sein Leben bei jedem Match in die Waagschale zu legen schien, der schrie und stampfte und strahlte, Boris, der plötzlich mit Günter Grass in einer Bar saß, mit Garry Kasparow Schach spielte, von Topmodels umschwirrt wurde und von Intellektuellen verklärt, wurde zum Mythos.
Alles zum Thema Boris Becker
- lit.Cologne-Verlosung Gewinnen Sie Karten für die Lesungen von Otto und Boris Becker
- „5 Euro auf dem Konto“ Lilly Becker spricht über finanzielle Notlage – Sohn Amadeus musste hungern
- Lilian zeigt Babybauch Boris Becker reist mit Familie nach Berlin
- Boris Becker über Zeit im Gefängnis „Ich spielte Karten mit einem verurteilten Mörder“
- Emotionale Rede Jürgen Klopp bringt Boris Becker zum Weinen
- Böser Seitenhieb Anna Ermakova teilt überraschend gegen Boris Becker aus
- Ex von Boris hat genug Barbara Becker verkauft überraschend ihre Traumvilla in Miami
„Du warst der berühmteste 17-Jährige der Welt. Du sahst aus wie Nutella und Milch“ schrieb der verhinderte Schriftsteller Wagner 40 Jahre später in einer seiner letzten „Bild“-Kolumnen an Becker, um im nächsten Satz kühl abzurechnen: „Und danach kam das Leben. Steuerprozesse, Scheidungen, Sex in Besenkammern bzw. Hoteltreppe. Du wurdest eine B-C-Prominenz. Lächerlich.“ Einer der größten deutschen Helden der Nachkriegszeit fiel vom Himmel in die Hölle und die Medien fuhren feixend mit hinunter.
Alle Widersprüche schienen bei Boris Becker größer, alle Niederlagen nach der Karriere tragischer
Alle Widersprüche schienen bei Boris Becker größer, alle Niederlagen nach der Karriere tragischer, alle Sätze fragwürdiger. So stark er auf dem Platz war, so schwach erschien er abseits davon. Im Buch erzählt Becker, wie er in der Zelle daran scheitert, einen Liegestütz zu machen und stattdessen die Biografien von Barack Obama und Karl Lagerfeld als Hanteln benutzt. Man sieht ihn vor sich, wie er durch die Gänge humpelt, weil Hüften, Knie und Sprunggelenke kaputt sind, und vor hantelgestählten, volltätowierten Häftlingen steht, wie er in einem Stoizismus-Kurs sitzt, lernt, die Gegenwart im Knast zu akzeptieren und schließlich selbst den Stoiker-Kurs leitet. Einmal vom Helden zum Antihelden und zurück.
„Gewinnen, verlieren, neu beginnen“ heißt die Biografie im Untertitel. Dass Becker das Leben auch abseits des Tennisplatzes stets als Kampf betrachtet hat, zieht er mit seinem Ghostwriter Tom Fordyce durchs Buch. Dass er die sieben Monate im Gefängnis von Anfang an als Kampf annahm, sich fokussieren und behaupten konnte wie auf dem Court, kam ihm gewiss zugute. Jetzt fragt er sich, ob er seine größte Waffe, dieses „Immer aufs Ganze gehen“, auch gegen sich selbst gerichtet habe?
Den Knast vergleicht Becker mit dem Tennisplatz: Auch hinter Gittern habe er die Schwächen des Gegners herausgefunden und sie attackiert. Die Tennis-Analogie wird oft bemüht, manchmal ist das anstrengend. Was er empfunden habe, als er in einer Einzelzelle unterkommt, um sicherer zu sein? „Ein echtes Glücksgefühl, zumindest für den Moment. Als hätte ich gerade einen Vorhand-Winner die Seitenlinie runtergeschickt.“ Gleich zweimal schreibt er, dass er sich fühle wie in einem Film über sich selbst. Fremdbestimmt wirkte Boris Becker in seinem Leben oft. Die Biografie erzählt die Story: Im Knast, wo ich allein und hilflos war, habe ich die Kontrolle über mein Leben zurückgewonnen.

Ein Sieg, der ihn zum Mythos machte: Boris Becker gewann mit 17 das Tennisturnier von Wimbledon.
Copyright: Rüdiger Schrader/dpa
Ausgangspunkt von „Inside“ ist – natürlich – der Wimbledon-Sieg 1985, der Becker zum Megastar mit nie erreichter Popularität machte und wider Willen zum Allgemeingut der Deutschen. Hätte er das Turnier nicht mit 17, sondern mit 22 gewonnen, mutmaßt Becker, wäre er wahrscheinlich nie im Knast gelandet. Um das „hätte“ und „wäre“ geht es oft. Ist nicht neu. Dafür hat Becker zu viele Interviews gegeben, zu oft darüber räsoniert, was gewesen wäre, wenn es nicht passiert wäre. Aber es ist (ihm) eben wichtig. Es zeigt die Fallhöhe.
Gut lesbar und für Tennisfans interessant machen das Buch die Einschübe: Becker erinnert sich an sein wichtigstes Match (Wimbledon 1985, natürlich) und seine schmerzlichste Niederlage (Wimbledon-Finale gegen Michael Stich 1991). Er erinnert sich daran, wie er Trainer des heute erfolgreichsten Spielers aller Zeiten, Novak Djokovic, wurde, und wie dieser seiner Lebensgefährtin Lilian und seinem Sohn Noah Karten für das Wimbledon-Turnier besorgte, während er im Knast saß. Und er berichtet von seinem wichtigsten Gegenspieler – dem US-Amerikaner Andre Agassi, der ihm mit seinen Zottelhaaren, den kurzen Jeans und den glamourösen Frauen die Rolle des größten Stars weggenommen habe.
Manchmal etwas drüber, manchmal etwas drunter. Genauso oft überschätzt wie unterschätzt
Becker returniert auch eine Passage aus Agassis Biografie „Open“, in der der Amerikaner erzählt, er habe an Beckers bei der Aufschlagbewegung hervorschnellender Zunge erkannt, wohin der Deutsche serviere. „Das ist der Showman in ihm. Er ist in Las Vegas geboren und aufgewachsen und die Geschichte ist schon toll. Sie bringt die Leute zum Lachen. Sie ist verkaufsträchtig“, schreibt Becker. In Wahrheit könne man die Zunge aus der Entfernung aber gar nicht sehen. Die Frage, wer der Größere war, scheint ihn weiter umzutreiben. Den Punkt für die bessere Biografie hat Agassi gewonnen. Becker hat die wuchtigere Story.
Je länger der Kampf mit „Inside“ dauert, desto mehr drängt sich der Eindruck auf: Das ist doch Boris Becker. Direkt, emotional. Widersprüchlich. Manchmal etwas drüber, manchmal etwas drunter. Genauso oft überschätzt wie unterschätzt. Eigentlich ein neugieriger und netter Mensch, den die gewaltige Berühmtheit gewaltig ins Taumeln gebracht hat. Und der bis heute hart und öffentlich um die Deutungshoheit über sein Leben kämpft.
„Wir werden Boris immer lieben“, sagte ein Tenniskumpel gestern Abend nach dem Spiel mit verklärtem Lächeln. In der Umkleide waren sich alle einig. „Natürlich, Boris! Da brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen!“ Ein Held muss Boris Becker nicht mehr sein.