BerlinaleKein großer Wettbewerb, aber mit einigen großen Filmen

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Fabrizio Ferracane in einer Szene des Films Leonora addio 

Berlin – In den USA, wo die Filmkritik auch künstlerische Filme gern in Genreschubladen sortiert, ist der Koreaner Hong Sang-Soo meist am selben Ort zu finden: Unter „walking and talking films“ wird man auch sein neuestes Werk einsortieren, „The Novelist’s Film“. Der letzte Wettbewerbsfilm taucht den nach dem Pandemie-bedingten Schachbrettmuster komplett-halbvollen Saal in Hongs bewährten Zauber aus schmunzelnder Nachdenklichkeit. Gehen und Reden, wenn das Rezept so einfach wäre, belegten seine in schneller Folge erscheinenden Dialogfilme über die meist künstlerische Befindlichkeit bei Festivals nicht immer wieder Ehrenplätze.

Eine alternde Schriftstellerin (Lee Hye-young) steht diesmal im Mittelpunkt, die - das ist keine wirkliche Überraschung - einem erfolgreichen Filmregisseur begegnet, der einmal eines ihrer Bücher verfilmen wollte. Etwas aber stört sie an seinen unverbindlichen Komplimenten, und bei der folgenden Zufallsbegegnung mit einer aus der Öffentlichkeit verschwundenen Schauspielerin wirft sie alle koreanische Höflichkeit bei Seite. Wie er denn dazu komme, dem Leinwand-abstinenten Star vorzuwerfen, er vergeude sein Talent. Sie sei schließlich kein kleines Kind mehr, und könne selbst entscheiden, was sie tue.

Hong Sang-Soo feiert die zufälligen Begegnungen

Die überraschende Tirade hat gleich dreifachen Erfolg, für die Protagonistin wie für die Geschichte: Den aalglatten Regisseur sind wir los, im verblüfften Ex-Star hat sich die Autorin eine Freundin erobert und zugleich das eigentliche Thema eingeführt. Es ist ihre eigene Schreibblockade, die sie bei dem ihr unbekannten Gegenüber als Schaffenskrise wieder erkennt. Weitere Spaziergänge und Begegnungen offerieren dann allerdings einen Ausweg: Beide Frauen wollen einen Film zusammen machen.

Auch in glücklicheren Zeiten kann man die therapeutische Kraft von Hong Sang-Soos Filmen gut gebrauchen, aber jetzt legt er seinen Finger auf den Kulturfolger der Pandemie – den Virus der Stagnation. Mehr muss man darüber gar nicht sagen: Sobald uns das Leben wieder mehr Zufallsbegegnungen erlaubt wie in den Filmen des Koreaners, kommt auch die Kreativität zurück.

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Bereits am Donnerstag werden in Berlin die Preise nach einem auf 18 Beiträge verkürzten Wettbewerb vergeben. Sie in sechs Tagen zu sehen und wenigstens noch ein paar andere dazu, hielt durchaus auf Trab. Was aber vor allem fehlte in dem Parcours von Testzentren und Absperrungen war der Austausch. Was ist ein Festival ohne die Möglichkeit, auch einmal spontanen Tipps zu folgen?

Eine Oase war hier das parallele Programm der „Woche der Kritik“, nach dem Vorbild von Cannes organisiert vom Kritikerverband. Hier sind die Filmgespräche fester Teil der Programmierung. Eine Entdeckung war hier die Französin Pascale Bodet, wenn man so will auch eine Meisterin im „walking and talking film“. Ihr intellektuelles Kleinod „Edouard et Charles“ ist inspiriert von der Freundschaft zwischen dem Maler Edouard Manet und dem Dichter Charles Baudelaire, spielt aber an den Kulturorten des heutigen Paris. Es ist ein verspielter Parcours aus Wort- und Bilderrätseln und kreativen Missverständnissen, der an den Schnittstellen der Künste auch das Kino neu entdeckt. Und das sonnendurchflutete Paris bringt sogar noch seinen eigenen Impressionismus mit hinein.

Das erste Solowerk von Altmeister Paolo Taviani enttäuscht

Weniger Glück hatte der italienische Altmeister Paolo Taviani mit seinem essayistischen Spielfilm „Leonora Addio“ im Dialog zwischen den Künsten. Ausgehend von der Überführung der Asche des Autors Luigi Pirandello von Rom nach Sizilien reflektiert der Filmemacher über dessen Einfluss auf die italienische Filmkultur und das Werk, das er selbst mit seinem 2018 verstorbenen Bruder Vittorio schuf. Merkwürdig unterbelichtet bleibt in der Reihung vieler Filmausschnitte nicht nur die Beziehung des Autors zum Faschismus. Auch die weit bewegendere Erzählebene, die Hommage an Vittorio, vermag sich nicht herauszuschälen. Und auch ein zum Ende eingearbeiteter neuer Kurzfilm nach Pirandellos letzter Erzählung „Der Nagel“ ist weit entfernt von der Poesie vom Taviani-Klassiker „Kaos“. Die Aufnahme von Paolo Tavianis erstem Solowerk in die Konkurrenz des Wettbewerbs ist nur als Respektsbezeugung zu erklären.

Bei der Vergabe der Goldenen Bären dürften jedenfalls andere Namen fallen. Kein Film war künstlerisch origineller als das Schweizer Bergdrama „Drii Winter“, kein Drehbuch schärfer in seinen hochemotionalen Dialogen als „Both Sides of the Blade“ von Claire Denis und Christine Angot. Keine Schauspielerin hat so mitgerissen wie Charlotte Gainsbourg in Mikhaël Hers‘ 80er-Jahre-Selbstfindungsgeschichte „Les passagers de la nuit“. Es war kein großer Wettbewerb, aber es steckte doch genug Großes darin.

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