Netflix-Hit „Inventing Anna“Die Millionenschwindlerin und das 1.FC-Köln-Trikot

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Julia Garner als deutsche Hochstaplerin Anna Sorokin  

New York – Manche Menschen, wahrscheinlich werden es täglich mehr, leben bereits die Verfilmung ihres Lebens. Zum Beispiel Anna Delvey. Die deutsche Erbin mit 60-Millionen-Dollar-Treuhandfonds scharte Mitte des vergangenen Jahrzehnts New Yorks Elite um sich. Investment-Banker, Immobilienhändler, Galeristinnen, Architekten, Society Ladies, alle eifrig bedacht darauf, Delveys ebenfalls millionenschweres Eitelkeitsprojekt zu verwirklichen, einen exklusiven Club, in dem Künstler und VIP aufeinander treffen sollten, die Anna Delvey Foundation. 

Das einzige Problem dabei: Auf Anna Delvey wartete kein großes Erbe. Das Geld hatte die Mittzwanzigerin ebenso erfunden wie ihren Namen und ihre Herkunft. Anna Delvey heißt in Wahrheit Anna Sorokin und wurde in der Moskauer Satellitenstadt Domededowo geboren. Mit 16 zog sie mit ihrer Familie nach Eschweiler in der Nähe von Aachen.

Der Sprung vom schüchternen Aussiedlermädchen in einer westdeutschen Kleinstadt zur glamourösen, vor Selbstbewusstsein strotzenden Millionenbetrügerin bleibt ein Rätsel. Und er bleibt es auch, nachdem man sich durch die knapp zehn Stunden der Miniserie „Inventing Anna“ von TV-Königin Shonda Rhimes („Grey’s Anatomy“, „Scandal“, „Bridgerton“) geguckt hat. Das soll ausdrücklich keine Kritik sein. „Sie denken, dass es da eine Entwicklung gab, wie im Film“, verhöhnt Anna die Magazin-Journalistin, die sich an ihre Fersen geheftet hat, „aber ich war immer die, die ich bin.“

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An der Spitze der Netflix-Charts

Die Verfilmung des Falls Anna Delvey führt derzeit die deutschen Netflix-Charts an. Die reale Anna Sorokin sitzt in den USA in Abschiebehaft, doch sie hat erreicht, was von Anfang an ihr erklärtes Ziel war: Sie ist berühmt. Ihr Fake-Leben im Instagram-Filter ist mit echten Kameras verfilmt worden. Der Streamingdienst hat ihre Fanfaronade gewissermaßen beglaubigt – und mehr für die Rechte an ihrer Geschichte gezahlt, als sie jemals erschwindelte.

Trotz des Publikumserfolgs: Viele Kritiker bemängelten indes die tonalen Schwankungen der Serie. Warum kann sie sich nicht auf ihren Titelcharakter konzentrieren? Warum erfährt man mehr über Annas schleimigen Start-up-Freund als über Anna? Und warum spricht Julia Garner, bekannt aus „Ozark“ und „The Americans“, sie mit einem derart aufgesetzt wirkenden Akzent?

Geltungssucht schlägt Freiheitsliebe

Alle neun Folgen erzählen die Geschichte aus der Sicht eines anderen Opfers von Anna Delvey. Ihr Gegenüber ist jeweils die hochschwangere Journalistin Vivien Kent (Anna Chlumskey). Die verfolgt selber eine Agenda, muss sich nach einem hochnotpeinlichen Recherchefehler rehabilitieren, während jederzeit die Wehen einsetzen können.

Als Kent in die Geschichte einsteigt, sitzt Anna schon in Untersuchungshaft im berüchtigten Gefängnis Rikers Island. Die Staatsanwältin ist ihr mit einem Deal sehr entgegengekommen. Die ehrgeizige Journalistin überredet Anna, ihn nicht anzunehmen und verspricht ihr – und sich selbst – im Gegenzug Ruhm. Die Geltungssucht ist größer als die Freiheitsliebe – das gilt, wenn man ehrlich ist, wohl für uns alle.

Den folgenden Prozess inszeniert Delvey als Modenschau. Besorgt sich eine Stylistin und einen Instagram-Account für ihre Outfits vor Gericht.

So geht es allen Menschen, die in den Mahlstrom der Delvey’schen Lügen geraten: Sie alle wollen etwas und glauben nicht, dies aus eigener Kraft erreichen zu können. Gesellschaft. Glanz. Geld fürs Start-Up. Ein Ausbruch aus der täglichen Routine. Den entscheidenden Karrieresprung. Erlösung. Anna Delvey sieht nicht gerade blendend aus und sie ist auch alles andere als freundlich. Julia Garner spielt sie mit dem Mut zum Abstoßenden, der bizarre Akzent ist da nur die Wachskirsche auf der Rasierschaumtorte.

Aber Delvey besitzt ein nahezu übermenschliches Gespür für die geheimen Wünsche ihrer Mitmenschen. Sie ist das Schwarze Loch für das vorherrschende Gefühl unserer Zeit: Das uns immer noch irgendetwas fehlt zum Glück, die anderen dieses Etwas aber bereits besitzen. Nennen wir es den Soziale-Medien-Neid.

Auf ihren Fischzügen in der New Yorker Gesellschaft begegnet Anna anderen Betrügern: Billy McFarland ist gerade dabei das berüchtigte Fyre Festival zu bewerben (wenn auch nicht zu organisieren); „Pharma-Bro“ Martin Shkreli prahlt mit den Alben, die er dem Wu-Tang Clan und Lil Wayne exklusiv abgekauft hat. Geld ermöglicht alles, man muss es noch nicht einmal wirklich besitzen.    

Was „Inventing Anna“ mit Herman Melville zu tun hat

So folgt die Struktur von „Inventing Anna“ Herman Melvilles episodischen Roman „The Confidence-Man“ aus dem Jahr 1857, worin ein Trickbetrüger verschiedene Passagiere auf einem Mississippi-Dampfer ins Vertrauen zieht. Der Titelheld ist nur ein Zerrspiegel für die Begehrlichkeiten und die Gutgläubigkeit seiner Mitmenschen. 

Erst die vorletzte Folge – es folgt ein kleiner Spoiler – beschäftigt sich endlich mit Anna Delvey selbst: Nach einem Suizidversuch öffnet sie sich einem verständnisvollen Psychiater. Eine Folge darauf entpuppt sich das tränenreiche Bekenntnis als weitere Hochstapelei.

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Währenddessen recherchiert Vivien Kent in Annas deutscher Zweitheimat. Einmal, aber das nur nebenbei, trägt sie dabei ein Trikot vom 1. FC Köln, ein Geschenk von Annas Familie. Peter Kurth spielt den russischen Klotz von einem Vater und hat eine wunderbare Szene, in der er einen 3000 Euro teuren Wein bestellt und ihn vor den Augen des entsetzten Kellners mit einer Diet Coke mischt.

Aber diese findet, wie wir kurze Zeit später herausfinden, nur in der überschäumenden Fantasie der amerikanischen Journalistin statt. In „Inventing Anna“ sieht jeder nur, was er sehen will. Und was sich hinter der Oberfläche verbirgt, interessiert möglicherweise niemanden.

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