„Bombardement mit Zahlen und Zellen“Annette Frier kritisiert Umgang mit Corona-Krise

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Die Schauspielerin Annette Frier

Köln – Frau Frier, in der ersten Phase der Pandemie haben Sie vehement auf die prekäre Lage von Filmschaffenden, freien Produzenten, Theaterleuten und Schauspielerinnen und Schauspielern hingewiesen. Zuletzt waren Sie eher still. Haben Sie resigniert?

Es stimmt, ich war zwei Monate lang in einer Art Dornröschen-Koma. Nach viel Arbeit im vorigen Jahr hatte ich jetzt eine längere Auszeit.

Glücklich, wer nicht arbeiten muss…

In meinem Fall ja. Andere sind verständlicherweise todunglücklich, dass sie nicht arbeiten dürfen, weil daran ihre Existenz hängt. An mir selbst habe ich gemerkt, wie ich mehr und mehr abgetaucht bin: Kopf in den Sand. Dichtmachen. Lasst mich in Ruhe mit den immer gleichen schlechten Nachrichten! Bitte nicht mehr drüber reden, meckern, nörgeln, klagen! Bringt eh alles nichts, ich bin jetzt erst mal weg.

Kultur ist Medizin für die Seele

Und wer hat Sie jetzt wachgeküsst?

Ich habe mich eher selbst wachgekniffen – zum Beispiel mit dem Gedanken, mich endlich bei Freunden und Kollegen zu melden, die ich lange nicht gesprochen habe. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich nicht die Einzige im gefühlten Wachkoma war im neuen Jahr. Viele erzählen, ihnen sei es zuletzt ähnlich ergangen wie mir. Auch sie hätten eine Phase des inneren Rückzugs hinter sich. Ich versuche gerade herauszufinden, woran das liegt. Und ich glaube, es ist der Überdruss an einem Dauerbombardement mit Zahlen und Zellen.

Sie meinen die ganzen Informationen rund um Inzidenzen, Virusvarianten, Mutationen?

Genau. Alles wichtig, keine Frage, und gut, dass Fachleute sich damit beschäftigen. Aber die medizinischen Fakten füllen nicht die riesigen Leerstellen in unserem Seelenhaushalt – mit dem Bedürfnis nach Nähe und Begegnung, aber auch mit all den Zweifeln, den Ängsten, den Dämonen, die einen nachts heimsuchen und nicht mehr schlafen lassen. Mir wurde das auch noch mal in der ganzen Drastik klar, als ich letzte Woche auf die Aktion „Das Leben im Zentrum“ gestoßen bin….

… Der Einzelhandel macht mit roten Lichtern in den Geschäften auf sich aufmerksam und warnt davor, was uns gerade alles an Lebensqualität verloren zu gehen droht.

„Das Leben im Zentrum“ fand ich auch als Aufforderung zur Selbstvergewisserung gut: Wo ist mein Kern? Worauf gründet mein Leben? Und was fehlt mir? Hier stoßen wir alle auf unsere Eigenverantwortung, klar. Aber eben auch auf das Wesen von Kultur, das total brach liegt. Das sind Beziehungen, die Kontakte. Ich spüre den Verlust und die Sehnsucht, mir das Verlorene zurückzuholen, irgendwie auch ein Stück Sinn zurückzuerobern.

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Sie drängen also auf baldige Lockerungen des Lockdowns?

Mehr noch erwarte ich von der Politik, dass sie differenziert anerkennt, was an Schutzkonzepten längst vorliegt. Ich zum Beispiel arbeite bei Dreharbeiten seit bald einem Jahr mit dauernden Tests für die ganze Crew. Und ich kann sagen: Das hat hervorragend funktioniert. Es gibt einem ein Gefühl von Sicherheit, es macht das Arbeiten leichter, und man nimmt auch Verantwortung für die anderen wahr. Ich finde, aus zwölf Monaten Erfahrungen sollten endlich Konsequenzen gezogen werden, anstatt das Mantra des „Auf Sicht Fahrens“ als alternativlos zu deklarieren. Offenbar müssen wir uns ja darauf einrichten, dass uns diese Pandemie noch eine Weile erhalten bleibt. Dann braucht es jetzt endlich Perspektiven und Strategien. Aber das sind eben nicht nur Tests und Impfungen und Hygienekonzepte.

Sondern welche noch?

Wir müssen den Menschen auch wieder Heilmittel für die Seele zugänglich machen. Kultur ist Medizin für die Seele, und zwar eine hoch wirksame.

Die Apotheke ist doch ganz gut bestückt: Bücher, Filme, gestreamte Konzerte und Theateraufführungen. Aber Sie wollen wahrscheinlich auf das Live-Erlebnis in Präsenz hinaus.

Ja, weil es eben doch etwas ganz anderes ist, ob die Sinneseindrücke nur in meinem Kopf bleiben – oder Resonanz bei einem Gegenüber finden. Das geschieht bei Präsenzveranstaltungen – und funktioniert aber auch auf Distanz. Wenn immerhin 38 Leute in einem 200-Plätze-Theater sitzen, entsteht in diesem Raum ein gewaltiges Kraftfeld. Das Wort „Begegnung“ klingt fast zu banal, um es auszusprechen. Aber in seiner Tragweite ist es sehr wahr. Ich weiß das von den wenigen Live-Momenten, die ich voriges Jahr erleben oder mitgestalten durfte. Sich spüren im Austausch mit anderen – übrigens ohne dass man ihnen gleich im Arm liegen müsste. Das reißt einen wirklich raus. Es beseelt.

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