Bühnenvereins-Chef zur Theaterkrise„Wir sind sozial alle sehr ängstlich geworden“

Marc Grandmontagne
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Köln – Herr Grandmontagne, Sie geben Ihr Amt als Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins Ende 2021 nach fünf Jahren ab. Sehr viel aufwühlender hätten diese fünf Jahre wohl nicht ausfallen können?
Marc Grandmontagne: In der Tat. Als ich anfing, hatte das Ensemble-Netzwerk gerade seinen zweiten Kongress gemacht. Dann kam #MeToo und dann Corona, dazwischen noch alles, was wir im Verband neu anschieben wollten. Und so große Themen wie Klima, Nachhaltigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Mindestgage. Das hätte für mehrere Amtszeiten gereicht. Es war auch eine schwierige Zeit für die Theater und Orchester. Ich finde aber, dass viele Kollegen in dieser Zeit sehr selbstkritisch, lernend und auch sehr bewusst in die Zukunft gegangen sind. Und das ist ein Gewinn.
Marc Grandmontagne, geboren 1976, ist studierter Jurist und Politikwissenschaftler. Er war von 2007 bis 2010 Leiter des Büros der Geschäftsführung der RUHR.2010 - Kulturhauptstadt Europas GmbH, dann Programmleiter der Stiftung Mercator in Essen. Von 2013 bis 2016 war er Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. in Bonn. Seit 2017 ist Grandmontagne Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins. Zum Ende des Jahres 2021 gibt er sein Amt aus familiären Gründen auf. Seine Nachfolgerin Claudia Schmitz arbeitet zur Zeit als Kaufmännische Geschäftsführerin am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Was haben Sie für sich selbst gelernt?
Ganz viel. Angefangen mit #MeToo muss man auch über sich als weißer Mann in einer Führungsposition nachdenken. Ich musste eine Sensibilität für Themen wickeln, die ich vorher nicht immer hatte. Außerdem: Es lohnt sich immer, einen langen Atem zu haben. Es lohnt sich auch immer, Kritik ernst zu nehmen, selbst wenn sie unangemessen vorgebracht wird. Ich habe den Bühnenverein als einen Raum kennengelernt, der eine gute Resonanz schafft, um über diese wirklich schwierigen Themen zu reden.
Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, hatte der Bühnenverein gerade seinen Wertekatalog verabschiedet ...
2018 haben wir einen wertebasierten Verhaltenskodex, unter dem Eindruck von #MeToo erlassen, mit dem Schwerpunkt auf sexueller Diskriminierung und Gewalt. Die zweite Maßnahme war die Gründung der Vertrauensstelle Themis. Und drittens haben wir beschlossen, unsere eigenen Gremien nach und nach geschlechtergerecht zu besetzen, angefangen im Präsidium. Das war der Beginn einer Entwicklung, die bis heute anhält. Es gab auch viele Diskussionen darüber, wie der Verhaltenskodex in den Häusern zu gebrauchen ist. Wir hatten zuletzt eine Erhebung, auf die hin sich 70 Häuser zurückgemeldet haben — und in allen 70 Häusern ist etwas passiert.
Run auf die Anlaufstelle Themis
Wie ist das Angebot der Vertrauensstelle angenommen worden?
Themis, das muss man leider so sagen, hat voll eingeschlagen. Die Vertrauensstelle hat im Oktober 2018 ihren Betrieb aufgenommen. Das hat eine Menge ausgelöst. Eine der interessantesten Erkenntnisse, die wir Themis verdanken: Obwohl es in den Theatern qua Gesetz schon Anlaufstellen gibt – Gleichstellungs- und Diskriminierungsbeauftragte, Betriebsräte, Ensemblesprecher –, haben diese Dinge nicht überall funktioniert. Themis hat sich dagegen als vertrauenswürdige Anlaufstelle erwiesen, die Menschen wenden sich mit ihren Problemen an die Kolleginnen dort. Mittlerweile melden sich vermehrt auch die Arbeitgeber bei Themis, fragen nach, was sie in bestimmten Fällen unternehmen können.
Es brauchte also eine Anlaufstelle außerhalb des Betriebs?
Genau, es brauchte einfach eine unabhängige Stelle. Hier muss niemand Angst vor Kantinengesprächen haben. Aber wir sind noch lange nicht mit diesem Prozess am Ende. Leider muss man sagen, dass die Beratungszahlen während der Pandemie wieder gestiegen sind. Und es gibt in diesem Bereich auch eine geringe Anzahl strafrechtlich relevanter Themen, wie etwa Vergewaltigung.
Mehr Konflikte durch Corona
Wo liegt die Verbindung zwischen der Pandemie und der größeren Anzahl an Konflikten?
Ich vermute, dass die Abhängigkeiten noch einmal deutlicher wurden. Die Angst ist bei allen gestiegen. Das hat den ein oder anderen dazu gebracht, die Situation auszunutzen. Gerade Künstler, die für eine Produktion ans Haus gebracht werden, stehen in einem ganz anderen Abhängigkeitsverhältnis. Mich hat das erstaunt, aber Menschen, die näher dran sind, haben sich nicht gewundert.
Jetzt haben Sie Ihren Verhaltenskodex noch einmal aktualisiert. Warum war das nötig?
Wir haben uns vergangenes Jahr ganz bewusst nochmal gefragt, was die Pandemie eigentlich für die Theater und Orchester bedeutet. Es gab Spannungen in den Theater. In einigen Städten hat es ja auch Trennungen von der Intendanz gegeben Und es sind einige Themen dazu gekommen, allen voran die Themen Rassismus und Diskriminierung. Wir haben das Dokument inhaltlich erweitert. Es ist jetzt klarer strukturiert, auch was die Verantwortung der Betriebe angeht, und wie sich deren Strukturen ändern müssen, damit so etwas nicht mehr möglich ist. Auch die Rechtsträgerschaft ist jetzt noch deutlich stärker mitgedacht.
Was bedeutet das?
Dass bedeutet, dass die Kommunen und die Länder nicht sagen können: Das ist eine Sache der Häuser. Auch sie sind über ihre Aufsichtsgremien, ihre Förderung und die Personalauswahl verpflichtet, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass die Strukturen an ihren Häusern stimmen, da brauchen die Häuser auch Unterstützung. Das ist eine Geldfrage, aber auch noch viel mehr. Es ist die Frage, wie ernst ich das Theater als Arbeitsplatz nehme. Ein städtisches Theater hat zwischen 300 und 1300 Angestellte, das ist ein mittelständischer Betrieb. Da müssen Leute führen können und das muss man eben lernen. Dazu muss der Rechtsträger die entsprechenden Möglichkeiten bieten.
Ist der Intendant das Problem?
Nun gibt es in den vergangenen Jahren immer wieder Überlegungen, das alte Intendanten-Modell abzuschaffen…
Ich finde die Debatte unterkomplex. Dass der Intendant das Problem ist, und dass, wenn er erst einmal weg ist, alle Probleme gelöst sind, stimmt einfach nicht. Sie kommen aus dem Machtproblem nicht raus, in dem sie die Spitze mit drei Leuten statt mit einem besetzen. Wenn die drei Spitzen nicht miteinander können, oder keine klaren Rollen und Zuständigkeiten haben, ist das für das ganze Haus ein Problem. Richtig ist, dass wir in einer veränderten Arbeitswelt leben, die horizontaler kommuniziert, weniger Hierarchien will. Trotzdem: wenn sie einen Betrieb mit mehreren hundert Mitarbeitern haben, brauchen Sie eine Form von Arbeitsteilung. Sie brauchen bewusste Prozesse was Umgangsformen und Führungsqualität angeht. Man muss für jedes einzelne Haus überlegen, was es braucht. Stendal lässt sich anders führen als die Bayerische Staatsoper.
Natürlich ergeben sich Hierarchien und Abhängigkeiten auch ganz von selbst, aus der unterschiedlichen Vergütung, aus den befristeten Verträgen gerade junger Schauspielerinnen und Schauspieler …
Wenn der Mindestlohn in Deutschland erhöht wird, kommen auch wir nicht um eine Debatte über eine weitere Erhöhung der Mindestgage herum. 2018 haben wir diese das letzte Mal erhöht, dazu den Schwangerenschutz gestärkt. Auch über das Thema von Nichtverlängerungen und Befristungen wird debattiert. Das können wir als Sozialpartner aber nur gemeinsam mit den Gewerkschaften lösen. Alle schimpfen über die Nichtverlängerungen, aber bisher gibt es von keiner Seite einen Vorschlag, was an die Stelle der Befristung treten könnte. Niemand will das Theater-Beamtentum. Ich verstehe die gesteigerte Sensibilität in sozialen Fragen, gleichzeitig lebt ein Theater aber auch von der Durchlüftung, der eine kommt, der andere geht.
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Während wir jetzt von der Erhöhung der Mindestgagen sprechen erwarten viele, dass auch am Theater nach Corona gespart werden muss, dass uns magere Jahre bevorstehen.
Das ist zu befürchten. Jedenfalls auf kommunaler Ebene, die Länder sind in der glücklichen Situation, dass sie Kredite aufnehmen können. Es gibt ja auch schon erste Fälle. Die kommunalen Haushalte stehen unter einem enormen Druck, da wird die Kultur als freiwillige Leistung in den Fokus geraten. Die Frage ist, wie wir es schaffen können, das, was da ist und was errungen wurde in den letzten Jahren, zu schützen. Als demokratierelevante Orte, die für die Gesellschaft gut sind, als Orte, welche die Spannungen in einer auseinanderbrechenden Gesellschaft aufnehmen können. Gleichzeitig haben wir in den letzten Jahren stark an einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen gearbeitet, an Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Familienfreundlichkeit, Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das wird alles auch zukünftig Geld kosten. Dieser Weg muss weitergegangen werden, aber am Ende muss auch noch Geld für die Kunst übrig bleiben.
Wie sind die Bühnen bislang durch die Pandemie gekommen? Wie groß ist der Frust, oder die Angst?
Ich fange mit dem Positiven an: Unsere Mitglieder haben sehr viel finanzielle Unterstützung bekommen. Die Häuser sind noch alle da. Aber das sage ich bewusst in Abgrenzung zu vielen selbstständigen Künstlern und Hybrid-Beschäftigten, die erst einmal ins Bodenlose gefallen sind. Das ist eine große Hausaufgabe für die Zukunft, diese Unterschiedlichkeiten miteinander zu versöhnen, freie Künstler sozial- und ordnungspolitisch besser einzubinden. Aber natürlich war diese Zeit für alle hart. Die Stimmung aufrecht zu erhalten, eventuell für die Tonne zu produzieren, nicht zu wissen, wie es morgen sein wird, das hat emotionale und psychische Schäden verursacht. Theater als Gemeinschaftsarbeit konnte nicht stattfinden. Es gibt bleibende Verschiebungen im System. Viele Freie haben aufgegeben, viele Zuschauer sind sehr zögerlich, bei den Inzidenzwerten ist das auch kein Wunder. Wir sind sozial alle sehr ängstlich geworden.
Wird das Publikum in absehbarer Zeit zurückkommen?
Viele Theatermacher erkennen eine Zurückhaltung im Innenraum, vor allem bei älteren Menschen, die Angst haben. Das muss man ernst nehmen. Man kann vermuten, dass durch eine Erhöhung der Impfquote Vertrauen zurück gewonnen werden kann. Viele Menschen waren auch einfach lange nicht mehr bei Veranstaltungen. Man kann nicht ausschließen, dass sich Gewohnheiten ändern. Aber das muss man sportlich sehen, und weiterhin alles dafür tun, dass sich die Menschen im Theaterraum sicher fühlen. Und gleichzeitig über das Programm versuchen, neue Zuschauer zu gewinnen.