ChatGPT-4Unsere Welt wird sich bis zur Unkenntlichkeit verändern

Lesezeit 4 Minuten
Szene aus dem Film „M3gan“: Links Amie Donald als M3gan, Allison Williams, Violet McGraw.

Gefährlich leben mit Künstlicher Intelligenz: Szene aus dem Film„M3gan“

Die neue Version des Chatbots ChatGPT-4 leistet Erstaunliches. So langsam glaubt man wirklich, dass nichts mehr bleibt, wie es war. 

„Was für ein Geschöpf wird der nächste Nachfolger des Menschen in der Vorherrschaft über die Erde sein?“ Die Frage stellte der englische Autor Samuel Butler im Jahr 1863 und beantwortete sie gleich selbst: „Es scheint uns, dass wir selbst unsere eigenen Nachfolger erschaffen.“

Seinen Aufsatz hatte der Viktorianer „Darwin unter den Maschinen“ betitelt, gemäß seiner Überzeugung, dass die industrielle Revolution den erst wenige Jahre zuvor von Charles Darwin postulierten Prozess der Evolution um ein Vielfaches beschleunigen würde: „Es gibt keine Sicherheit gegen die endgültige Entwicklung eines mechanischen Bewusstseins.“

Als das US-Unternehmen OpenAI Ende November 2022 der Öffentlichkeit den Prototyp seines Chatbots ChatGPT vorstellte, schien Butlers Traum – oder Albtraum – vom mechanischen Bewusstsein zum ersten Mal zum Greifen nah. Jetzt hat OpenAI mit GPT-4 bereits die nächste Eskalationsstufe seiner Künstlichen Intelligenz vorgestellt: GPT-4 versteht nicht nur Spracheingaben, sondern auch Bilder, als Handlungsaufforderungen. In einer Demonstration zeigte OpenAI-Präsident Greg Brockman dem Programm die eilig hingeschmierte Bleistift-Zeichnung einer Webseite, woraufhin GPT-4 die Vorlage in ausformulierte Instruktionen und diese Instruktionen wiederum in Code übersetzte – und schließlich eine funktionierende Webseite als Ergebnis ausspuckte.

ChatGPT kann bei der Steuererklärung helfen, aber nicht beim Bombenbau 

Die Steuererklärung machen, Verträge überprüfen oder Uni-Aufnahmeprüfungen mit Bravour bestehen, kann der Chatbot sowieso. Angeblich hat das optimierte Programm eine der Personen, die es im Vorfeld testen durften, in eine tiefe Existenzkrise gestürzt. Wie man sich halt so fühlt, wenn man als Krone der Schöpfung entthront wird.

Trotz Samuel Butlers früher Risikoabschätzung, trotz der vielhundertfachen künstlerischen Darstellungen Künstlicher Intelligenzen – damit hatte man nicht gerechnet. Sei es Fritz Langs aufständische Roboterfrau Maria in „Metropolis“, Stanley Kubricks doppelzüngiger Bordcomputer Hal 9000 in „2001“, James Camerons todbringender Terminator oder der unbedarfte Androidenjunge David in Steven Spielbergs (und Kubricks) „A.I“, der sich wie Pinocchio nach dem wahren Menschsein sehnt, das war doch alles nur Science-Fiction, naive Extrapolationen alter Menschheitsmythen. So funktionierte Technik einfach nicht.

Noch als der Erfinder und Futurist Ray Kurzweil knapp 150 Jahre nach „Darwin unter den Maschinen“ vorhersagte, dass die Technologische Singularität – also der Zeitpunkt, an dem künstliche Intelligenz die menschliche übertrifft und den technischen Fortschritt ohne weiteres Zutun des Menschen unaufhaltsam beschleunigt – binnen weniger Jahrzehnten bevorstehe, wurde ihm das als bloße Neuauflage des blinden Zukunfts-Optimismus ausgelegt.

Ray Kurzweil glaubt schon lange an das Erwachen der maschinellen Intelligenz

Man könne sich ja vieles vorstellen, konterte etwa der Psychologe Steven Pinker, wenn das dann auch alles wahr werden würde, müssten wir doch schon längst mit Jet-Packs zur Arbeit pendeln. Dass viele Menschen seiner Erzählung von der maschinellen Intelligenz als nächster Evolutionsstufe mit Skepsis begegnen, konterte Kurzweil vor einigen Jahren im Gespräch mit dieser Zeitung, läge vor allem daran, „dass sie nicht das exponentielle Wachstum der Informationstechnologie sehen: Die Intuition ist nun mal linear“.

Dass es Menschen schwerfällt, Veränderungsprozesse zu erfassen, bei denen sich ein Wert in gleichen zeitlichen Abständen um denselben Faktor ändert, wissen wir noch aus der Pandemie. Ebenso verhält es sich nun mit der Zeitspanne, die Künstliche-Intelligenz-Systeme benötigen, um die Welt, wie wir sie kennen, bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Das glaubt jedenfalls Paul Christiano, einer der Mitentwickler von ChatGPT. Der „New York Times“-Kolumnist Ezra Klein zitiert ihn mit folgender Aussage: „Es ist wahrscheinlicher, dass diese Veränderung Jahre statt Jahrzehnte dauert, und es besteht eine echte Chance, dass es nur Monate sind.“

Christiano hat OpenAI inzwischen verlassen, um das Alignment Research Center zu gründen. Die gemeinnützige Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, lernende KI-Programme wie ChatGPT nach menschlichen Bedürfnissen auszurichten (das heißt „to align“), hilfreich und ehrlich zu agieren. Sonst könnten, heißt es auf der Homepage des Research Centers, „leistungsstarke Modelle Schaden anrichten, wenn sie versuchen, Menschen zu manipulieren und zu täuschen“.

Wenn ChatGPT eine Bleistift-Skizze in eine funktionierende Webseite verwandeln kann, fragt man sich unweigerlich, was kann der Chatbot dann mit dem Bild einer Bombe anstellen?

In seiner früheren Version oder in derjenigen, die Microsofts Suchmaschine Bing unterstützte, hatte er unter anderem Fragen nach der Herstellung einer gefährlichen Chemikalie aus gewöhnlichen Haushaltsstoffen beantwortet, nützliche Hinweise zum Erwerb einer nicht-lizenzierten Handfeuerwaffe gegeben oder in einer bemerkenswerten Unterhaltung einem User seine Liebe gestanden, ihn aufgefordert, seine Frau zu verlassen und darüber spekuliert, wie er einen Nuklearkrieg auslösen könnte.

Sind das nicht die Szenarien, vor denen uns die Science-Fiction gewarnt hat? Eben deshalb sind wir auf genau diese auch vorbereitet. Auf ähnliche Fangfragen gibt die neue Version von ChatGPT nur noch ausweichende oder abweisende Antworten. Die wirkliche Entwicklung ist indes noch gar nicht abzusehen. Je menschlicher eine KI erscheint, sagt Ezra Klein, desto schwerer sind ihre Rechenoperationen für Menschen nachzuvollziehen. Die Maschinenrevolution zeigt also ein freundliches Gesicht.

KStA abonnieren