Kunsthistoriker über Corona-Frisuren„Langes Haar war das Haar der Herrschenden“

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Wachsende Haare sind für viele Menschen ein großes Problem in der Corona-Pandemie. (Symbolbild)

Köln – Am Montag dürfen die Friseure wieder öffnen – anders als beispielsweise der Einzelhandel oder Museen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder begründete die umstrittene Entscheidung mit Hygiene, aber auch mit „Würde in diesen schwierigen Zeiten“. Können Sie das nachvollziehen? Christian Janecke: Also den Aspekt der Hygiene: Eher nein. Man kann ja langes Haar genauso pflegen wie kurzes. Das Argument erinnert an die 1930er Jahre, wo es galt: Immer frisch frisiert, immer frisch rasiert. Das war sicher auch eine Kampagne der Friseure. Es hieß, das lange Haar sei verlaust und es gehört frisch gewaschen und frisiert. Wobei, wenn man noch weiter zurück schaut in die Geschichte, dann sieht man ja, dass das lange Haar das Haar der Herrschenden war. Und die Knechte und Unfreien trugen kurzes Haar. Und erst in späterer Zeit wurde langes Haar zum Haar des Bohemien – bis hin zur Diskussion über die Langhaarigen bei der Bundeswehr in den 1960er/70er Jahren. Oder überhaupt die Angst, dass die eigenen Kinder Hippies werden. Man ruft also nach „Hygiene“, meint aber das “Adrette“!

Und können Sie mit dem Begriff der „Würde“ etwas anfangen in Bezug auf Frisuren?

Ja und Nein: Nein, weil es gewiss wichtigere Austragungsorte für Würde gibt als ausgerechnet unsere Haarschöpfe. Ja, weil Fragen der Selbstwahrnehmung berührt sind: Die Frisur kann, ähnlich dem Gesicht, eine enorme Konstante darstellen – beide können uns gelungenenfalls noch nach Jahrzehnten charakterisieren, uns wiedererkennbar halten.

Zugleich aber können wir Haare frisieren, wie wir wollen: graue Haare färben beispielsweise. Das kann eine Art Kontrollgewinn über die Kontinuität des Selbstbildes sein. Da geht es auch weniger um Authentizität, eher um prolongierte Selbstentwürfe. Im fortgeschrittenen Alter hat man möglicherweise schon diverse körperliche Wehwehchen – aber man schlüpft unverdrossen in die alte Maske. 

Sich selbst wichtig nehmen

Eine gute Frisur stabilisiert also unser Selbstbild?

Ich sehe darin Selbstsorge und das hat tatsächlich auch mit Würde zu tun. Die Menschen müssen das machen, um vor sich selbst bestehen zu können. Vor dem Bild, das sie von sich selbst entworfen haben.

Ich finde es gerade wichtig in einer Zeit, in der die Politiker immerzu das Evangelium der Systemrelevanz vor sich her tragen. Es wird dekretiert, wer wichtig ist derzeit und wer nicht. Da ist es gut, wenn die Menschen sich klar machen, dass sie selber wichtig sind und dass sie sich selbst wichtig nehmen. Dazu gehört auch die ästhetische Selbstsorge. Die muss nicht, aber sie kann auch im Gang zum Friseur liegen.

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Fast 70 000 Menschen sind inzwischen in Deutschland im Zusammenhang mit Corona gestorben. Und nicht nur ältere Menschen vereinsamen. Ist eine adrette Frisur in dem Zusammenhang nicht ziemlich egal?

Ich will das nicht bewerten, ich bin ja Kunsthistoriker und mit Blick auf die Geschichte kann ich nur sagen: Gucken Sie doch mal in die so genannten goldenen 20er Jahre. Die aus Sicht der Wirtschaftsgeschichte übrigens gar nicht golden waren, sondern den meisten Menschen ging es richtig mies.

Wasserwelle trotz Wirtschaftskrise

Im Ausgang des ersten Weltkriegs wütete auch noch die spanische Grippe. Die Leute hatten große Probleme und trotzdem haben sie gefeiert. Alles, was wir heute über die Wasserwelle und den Bubikopf wissen, stammt aus den 20er Jahren. Und damals waren die Probleme viel größer als heute.

Vielen Menschen stand das Wasser bis zum Hals. Und die Übersterblichkeit war teilweise viel höher als sie heute wegen Corona ist. Und gerade in diesen schlechten Zeiten wollten die Leute ja ebenfalls etwas anderes haben, woran sie sich halten konnten. Sei es Unterhaltung oder eben auch Schönheitspflege.

Zur Person

Christian Janecke ist Professor für Kunstgeschichte an der HfG Offenbach. Arbeitsschwerpunkte sind u.a: Bild-, Kultur- und Modewissenschaftliches in Bezug auf Kunst oder Gestaltung. Von 2002 bis 2005  war er Inhaber der Wella Stiftungsdozentur für Mode und Ästhetik an der TU Darmstadt.

Auch im Krieg hat Schminke eine Rolle gespielt. Man hat gerade versucht, mit geringen Mitteln trotzdem etwas zu erreichen. Dafür braucht man gar nicht notwendig einen professionellen Friseur oder gar eine Kosmetikerin. Mitunter sogar das Gegenteil. 

Wie meinen Sie das?

Ab, grob gesagt, der französischen Revolution 1789 kommt die Vorstellung auf, es gälte mit den eigenen Haaren gerade nicht eine Fassade zu zeigen, sondern sich selbst, unverstellt und authentisch zum Ausdruck zu bringen.

Zur Verbürgerlichung gehört auch, dass die Haare über uns Auskunft geben. Der französische Romantiker Chateaubriand beispielsweise wollte verzweifelt aussehen und trug einen Struwelkopf. Oder schauen Sie sich das Selbstporträt  Caspar David Friedrich von 1810 an - mit irrlichterndem Blick und wirrem Haar.

Struppiges Haar gilt als authentisch

Das ist etwas, das sich immer weiter auch bei den Romantikern findet und bis hin zu Dichtern und Künstlern der Gegenwart. Struppiges,  wildes Haar gilt als authentischer Selbstausdruck. Dafür wurden vor 20 Jahren sogar eigens „out of bed“-Produkte erfunden. Nach rund 3000 Jahren menschlicher Haarpflege, die Ordnung schaffen sollte, also einen Kosmos der Frisur, dient dieses Mittel gezielt dem Chaos.

Markus Söder trägt lieber Kurzhaarfrisur. Wie übrigens die meisten deutschen Politiker und Politikerinnen eher konservativ frisiert sind.  Nur der Grüne Anton Hofreiter vermisst die Friseure nach eigenen Angaben nicht allzu sehr…

Ein Gegenbeispiel gäbe aber Boris Johnson, der sich in der Tradition der englischen Dandys oder auch Stutzer frisiert. Und der eitlen Idee nachhängt, sich als jemand zu zeigen, der gar keine Zeit hat, sich um so unwichtige Dinge wie Frisuren zu kümmern. Er pflegt ja auch sein Lausbuben-Image des Unangepassten.

Haare fallen in Videokonferenzen auf

Gewinnen in Zeiten von Videokonferenzen Haare eine neue Bedeutung?

Zweifellos:  Gerade in Zeiten der „Talking Heads“ bei Videokonferenzen. Viele Menschen wollen auch da eine gute Figur machen und das Haar umrahmt nun mal das Gesicht, das in vielerlei Hinsicht das Zentrum unserer Kommunikation ist. Wir sind eine noch stärker faciale Gesellschaft geworden dadurch. Insofern haben Haare einen prominenten Platz. Wer jetzt schlecht frisiert ist, steht schlechter da als derjenige, der kurze Beine hat.

Oben schick, unten Jogginghose. Ist das nicht auch ein Symbol für die Ästhetik der Corona-Zeit?

Man muss die Menschen in verschiedenen Rollen anerkennen, auch in verschiedenen ästhetischen Rollen. Es gibt verschiedene Grade wie Kontexte der Vernachlässigung und der Selbstfürsorge, zwischen denen die Menschen wählen können. Wichtig ist nur, dass sie tatsächlich wählen können.

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