Debatte um SilvesterkrawalleWer hat Angst vor Vater Staat?

Lesezeit 4 Minuten
Ein ausgebrannter Reisebus steht nach Krawallen in der Silvesternacht in einer Straße im Berliner Bezirk Neukölln.

Ausgebrannter Reisebus im Berliner Bezirk Neukölln

Seit den Ausschreitungen von Silvester wird über den staatsfeindlichen Ausnahmezustand diskutiert. Droht ein „molekularer Bürgerkrieg“?

In einer französischen Vorstadt kommt ein Jugendlicher ums Leben, mutmaßlich durch Schläge mehrerer Polizisten, wie auf einem Internetvideo zu sehen ist. Am nächsten Tag stürmen seine Freunde die Polizeistation und verschanzen sich in ihrem Wohnviertel, einem Betonkomplex, den die Polizei belagert wie mittelalterliche Ritter eine Burg. Doch so oft sie versucht, die Festung einzunehmen, so oft schlagen die wütenden Jugendlichen sie mit Batterien von Feuerwerkskörpern zurück.

Als „Athena“, der Netflix-Film von Romain Gavras und Ladj Ly, letztes Jahr in die französischen Kinos kam, sah die radikale Rechte in ihm eine Blaupause für den migrantischen Bürgerkrieg. Dabei kennt der Film auf allen Seiten nur Verlierer, und am Ende stellt sich heraus, dass eine rechtsextreme Bande den Jungen getötet hat, um die Aufstände zu provozieren. Mit Erfolg: Zumindest im Film versinkt die französische Republik im landesweiten Chaos.

Deutschland stellt sich die Frage, was in den abgehängten Wohnkomplexen gärt

Seit den feuerwerklichen Ausschreitungen der Silvesternacht stellt sich nun auch in Deutschland die Frage, was in den abgehängten Wohnkomplexen unserer Großstädte gärt. Die „Berliner Zeitung“ erinnert an den „molekularen Bürgerkrieg“, den Hans Magnus Enzensberger schon vor drei Jahrzehnten ausmachte: eine spontane Lust auf Attacken, in der sich die eigene Ohnmacht an den staatlichen Organen austobt. An anderer Stelle werden im Zuge einer „ehrlichen Bestandsaufnahme“ junge Männer „mit Migrationshintergrund“ in gute und schlechte aufgeteilt – und letztere für die Gesellschaft verloren gegeben. Die marxistische Linke wiederum klopft die Ausschreitungen auf ihr revolutionäres Potenzial ab und wappnet sich für eine weitere Enttäuschung.

Von französischen Verhältnissen, sowohl im Film wie in der Wirklichkeit, sind die Vorfälle der aktuellen Silvesternacht glücklicherweise weit entfernt. Das liegt an den dramatischeren Zuständen in den Banlieues, aber auch an der revolutionären Mentalität unserer Nachbarn, der eine bis heute geradezu royalistisch verfassten Demokratie entspricht. Auch einen Michel Houellebecq, der „umgekehrte Bataclans“ heraufziehen sieht, gibt es hierzulande nicht. Aber dafür offenbar eine nicht nur unter Reichsbürgern verbreitete Lust am fantasierten Bürgerkrieg, eine Sehnsucht danach, sich einen Ausnahmezustand auszumalen, von dem man sicher sein kann, dass er die eigenen Wohnviertel nicht erreicht.

No-Go-Areale bleiben für die Mehrheit abstrakte Fernsehphänomene

In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Silvesterausschreitungen von der Klimakatastrophe, die nicht plötzlich, sondern schleichend auftritt und in ihren Auswirkungen ungleich demokratischer zu sein verspricht. Zwar darf man sich als Bürger mit guten Gründen mitgetroffen fühlen, wenn Feuerwehrleute, Polizisten oder andere staatliche Vertreter mit Leuchtraketen beschossen werden. Gleichzeitig haben wir die Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung nicht von ungefähr an diese Spezialkräfte delegiert. Im Zweifelsfall bleiben No-Go-Areale für die Mehrheit abstrakte Seminar- und Fernsehphänomene; die Klimakrise kriecht hingegen zum Fenstersims herein.

In gewisser Weise scheint der „molekulare Bürgerkrieg“ tatsächlich keine konkreten Anlässe mehr zu brauchen, um sich zu für lokal begrenzte Stunden Bahn zu brechen. Das gilt nicht nur für soziale Brennpunkte, auch erlebnisorientierte Fußballfans prügeln sich ohne umstürzlerische Hintergedanken miteinander oder mit der Polizei. Aber es fällt doch auf, dass sich die gewalttätige Enthemmung gerne an gesellschaftlich eingeübte Ausnahmezustände hängt: das Fußballfest, die Sauftour und als alljährlich wiederkehrende Höhepunkte Silvester und Karneval.

Es ist nun wirklich kein Geheimnis: Wer an Silvester nüchtern bleibt oder keine Unsummen verpulvert, hat ein Problem, und wer an Karneval nicht jeck wird sowieso. In der Regel richtet sich das vorübergehende Die-Regeln-außer-Kraft-Setzen freilich nicht mehr gegen wie auch immer geartete äußere Autoritäten – wie oft bekam es der normale Bürger (insbesondere vor Corona) in seinem Leben schon mit Polizei, Ordnungsamt oder anderen maßregelnden Staatsorganen zu tun? Attackiert wird im festlichen Ausnahmezustand aus Mangel an staatlicher Kontrolle allenfalls das eigene Über-Ich.

Man muss daher vor allem die Frage stellen, warum und für wen staatliche Instanzen überhaupt eine Blitzableiterfunktion haben können. Das wären wohl vor allem Menschen, denen Vater Staat nicht als anti-autoritärer Erziehungsberechtigter entgegentritt, sondern als Spiegelbild patriarchaler Macht- und Familienstrukturen.

KStA abonnieren