„Die Einwilligung“Mit 14 sexuell missbraucht – ein Buch als nüchterner Aufschrei

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Vanessa Springora begann als 14-Jährige eine Beziehung zu dem damals 50 Jahre alten französischen Schriftsteller Gabriel Matzneff. Sexueller Missbrauch, sagt sie. Eine freiwillige Liebesbeziehung, sagt er.

  • Mit ihrem Buch „Die Einwilligung“ hat die französische Autorin Vanessa Springora in ihrem Heimatland ein Erdbeben ausgelöst. Sie beschreibt darin ihren sexuellen Missbrauch als 14-Jährige – begangen von einem deutlich älteren, sehr renommierten Autoren.
  • Nun ist ihr Aufschrei auf Deutsch erschienen. Eine Kritik.

Das Wichtigste steht bereits in Großbuchstaben auf dem Buchcover. Eine junge Frau, die sexuell schwer missbraucht wird, muss sich selbst dabei nicht als Opfer fühlen. Sie kann sogar einverstanden damit sein.

Freiwillig Macht und Erniedrigung über sich ergehen lassen, ein System bejahen, das ihr die Jugend und – wenn sie Glück hat: nur – Teile ihres Lebens rauben wird. Das definitiv Opfer ist und bleibt, sich dabei aber noch von Vorwürfen zerfleischen lässt, eigenen wie fremden.

„Die Einwilligung“ heißt das autobiografische Buch der französischen Autorin Vanessa Springora, das im Januar 2020 größere Schockwellen und polizeiliche Ermittlungen in ihrem Heimatland auslöste und jetzt auf Deutsch erschienen ist. Das Buch ist ein leise und nüchtern, fesselnd und schonungslos erzählter Aufschrei. Gegen die auch heute noch längst nicht ausgestorbenen Kommentare der Gattung Sie-wollte-es-doch-auch und Selbst-schuld. Konkret aber auch gegen die linke Intellektuellen-Szene Frankreichs, die den sexuellen Missbrauch Minderjähriger in den 1970er-Jahren regelrecht abfeierte, vordergründig, um alle Körper zu befreien, gegen die sexuelle Spießigkeit. Eine Bewegung, die sich parallel auch in Deutschland wiederfand.

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Vor diesem Hintergrund also spielt sich die unglaubliche, aber wahre Geschichte Springoras ab, die heute 48 Jahre alt ist, Lektorin des Pariser Verlags Edition Juillard, den sie ab 2021 leiten wird. Die damals 13-Jährige lebt allein mit ihrer Mutter im Paris der 80er-Jahre, als sie den renommierten Schriftsteller Gabriel Matzneff bei einem Abendessen kennenlernt. Der früh abwesende, lieblose und herrschsüchtige Vater hat eine große Lücke in ihrem Leben hinterlassen. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung ist enorm, auch das, Männern zu gefallen. Matzneff ist zu dem Zeitpunkt 50 Jahre alt und macht Vanessa M., wie er sie später in seinen Büchern über ihre Beziehung nennen wird, sofort Avancen. Ihre Mutter ist zunächst entsetzt über die aufflammende Beziehung, warnt ihre Tochter vor dem bekannten Päderasten. Doch beeindruckt von der Bekanntheit des Verehrers und auf Drängen der verliebten 14-Jährigen, gibt sie letztlich doch: ihre Einwilligung. Mehrere Jahre lang wird die Kleine Gespielin des großen Autoren, der sie von der Schule abholt, damit sie ihn nachmittags im Hotelzimmer oral befriedigt. Unter anderem.

Dass Matzneff Sex mit Minderjährigen hat, ist in Frankreich damals jedem bekannt, der seine Bücher liest. Unverhohlen verherrlicht er den Missbrauch Jüngerer zum Beispiel in seinem Buch „Les moins de seize ans“ („Unter sechzehn“) im Jahr 1974. Seiner Argumentation, dass eine unerzwungene Liebe mit Teenagern etwas völlig anderes sei als Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch, wird damals mitnichten öffentlich widersprochen. In einem anderen Buch schwärmt er von seinen Erfahrungen eines Sextourismus-Trips, von den „zarten Ärschen“ philippinischer Jungs. Er solidarisierte sich mit dem französisch-polnischen Regisseur Roman Polanski, der wegen des sexuellen Missbrauchs einer 13-Jährigen verurteilt wurde.

Allen expliziten Schriften und Aktionen zum Trotz bleibt Matzneff ein renommierter Autor im französischen Literaturbetrieb. Noch im Jahr 1990, als er bei einer Fernsehsendung von einer kanadischen Autorin für seine Pädophilie scharf angegriffen wird, ergreift das Feuilleton überwiegend Partei für ihn. Und der Verlag, in dem Matzneff seine Notizbücher während der gemeinsamen Beziehung mit Vanessa M. in mehreren Bänden veröffentlicht, eine Feier auf die ungleiche, von ihm literarisch überhöhte vermeintliche Liebes-Beziehung zu der Minderjährigen, verlegt die Bücher unverdrossen weiter – bis zum Erscheinen von „Die Einwilligung“. Denn die Polizei nimmt das Buch zum Anlass, die Verlagsräume und das Haus des mittlerweile hochbetagten Autoren zu untersuchen, auf der Suche nach Beweisen für strafrechtlich nicht bereits verjährte Pädophilie und die Verherrlichung von Verbrechen. Matzneff hingegen stilisiert sich in Interviews selbst als ein Opfer Springoras.

Zum Buch und zur Person

Vanessa Springora wurde am 16. März 1972 geboren und studierte an der Sorbonne Universität Literatur. Seit 2006 arbeitet sie als Lektorin des Verlages Editions Julliard, den sie ab 2021 leiten wird. Ihr autobiographischer Text „Le consentement“ (Die Einwilligung) erschien im Januar 2020 im Grasset Verlag und löste ein literarisches Erdbeben aus, nun ist er auf Deutsch erschienen.

Vanessa Springora: „Die Einwilligung“, deutsch von Hanna van Laak, Blessing Verlag, 175 Seiten, 20 Euro, E-Book: 15,99 Euro.

Selbstverständlich war die Beziehung zwischen Matzneff und Springora in Frankreich bereits in den 80er-Jahren gesetzlich verboten. Aber die anonym informierte, mehr als lasch recherchierende Polizei, Nachbarn, Freunde der Familie: Alle sahen darüber hinweg, akzeptierten die vordergründig auf gegenseitiger Einwilligung beruhende Beziehung, deckten den Missbrauch. Dass es in der vermeintlich freigeistigen Künstler-Szene noch lange als schick oder mindestens akzeptabel galt, was schon lange zurecht verboten war, ist einer der schweren Vorwürfe Springoras in dem Buch. Die Autorin zeichnet den Schriftsteller als Vampir, der ihr Leben ausgesaugt und sie mit seinem literarisch pervertierten Zerrbild von ihr zum zweiten Mal zum Opfer gemacht hat. Zumal er ihren echten Namen verwendet. Lediglich unwesentlich älter stellt er sie dar, aus juristischen Gründen.

Zunehmende Dominanz

Irgendwann bemerkt das Mädchen, dass der Autor neben ihr Affären mit anderen Schülerinnen hat. Er tritt mit zunehmender Dominanz auf, untersagt ihr Kontakte zu gleichaltrigen Jungs und fordert sie auf, Briefe zu schreiben, in denen sie ihm ihre Liebe gesteht. Als Schutz für sich selbst, so ahnt sie später, falls die Polizei ihm doch auf die Schliche kommt. Sie beendet die Beziehung. Matzneff scheint das nicht akzeptieren zu könnten, stellt ihr noch viele Jahre in E-Mails und Briefen nach. Springora versagt in der Schule und im Studium, muss in psychische Behandlung und kann sehr lange nicht mit anderen Männern umgehen, ohne dabei Ekel zu empfinden. Kann Sex ohne äußeren Zwang überhaupt Missbrauch sein? Wo liegt die Grenze? Am Ende findet die durchaus selbstkritische Autorin für sich eine eindeutige Antwort. Ein Erwachsener überblickt sein Handeln, ein nach Orientierung und Anerkennung suchendes Mädchen auf der Schwelle zur Frau nicht. Überall da, wo das Machtgefälle groß ist, ist Sexualität vor allem eins: Ausübung von Macht. Egal, welches Alter und welches Geschlecht der oder die Rangniedrige in diesem Gefüge hat. 

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