„Du, Alice“ im Schauspiel KölnIhre Brüder waren Berühmtheiten, sie verkümmerte im Bett

Lesezeit 4 Minuten
Du, Alice
Eine Anrufung
von Simone Scharbert
Regie: Antonia Ortmanns
 
Regie: Antonia Ortmanns
Bühne: Sarah Pragay
Kostüm: Wiebke Barbara
Dramaturgie: Johanna Rummeny
 
Foto: Ana Lukenda

Janina Sachau (l.) und Brit Purwin in „Du, Alice“ im Schauspiel Köln

Die junge Regisseurin Antonia Ortmanns bringt einen Prosatext der Erftstädter Autorin Simone Scharbert zur Uraufführung. Unsere Kritik.

„Unsere Alice, unsere arme Alice“, seufzen Janina Sachau und Brit Purwin im Chor, echoen damit das Klagelied der Familie James – und meinen zugleich sich selbst. Als eine „Anrufung“ hat die Erftstädter Autorin Simone Scharbert ihren in der zweiten Person Singular geschriebenen Prosatext „Du, Alice“ untertitelt. Die junge Regisseurin Antonia Ortmanns hat aus der so lyrisch-verknappten wie angenehm klaren Vorlage einen Monolog für zwei Schauspielerinnen gemacht und nun in der winzigen Grotte des Schauspiels Köln zur Uraufführung gebracht.

Alice James war die jüngere Schwester zweier Giganten des amerikanischen Geisteslebens am Ende des 19. Jahrhunderts: William James, Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus und Henry James, wenn nicht der größte, so doch wenigstens der eleganteste Romancier seiner Zeit. Alice stempelt die familieneigene Feinnervigkeit dagegen zum Sorgenkind, zur unheilbar Kranken. Während die Brüder in den Salons dozieren, verbringt sie die meiste Zeit ihres Lebens innerhalb der engen Grenzen ihrer Bettstatt. Hysterie befinden die Ärzte, die Bettruhe ist verordnet.

Während William und Henry in den Salons dozieren, gilt Alice James als unheilbar krank 

Die Symptome der damals pauschal diagnostizierten Hysterie, schreibt die US-Historikerin Rachel P. Maines, seien im Grunde gleichbedeutend mit einer normal funktionierenden weiblichen Sexualität. „Frauen sollen ihren Körper und Geist unter Kontrolle haben, moralisch unbefleckt sein und Söhne in die Welt setzen“, referiert Sachau die Zumutungen des Patriarchats. Eine Welt, ganz nach dem Maß des Vaters. Eine Welt, die sie anwidert, der sie sich verweigert. Sie will weder Fürsorge noch männliche Bewerber, sie schwärmt für Frauen und begeistert sich für weibliche Solidarität und weibliches Wissen, das sich in jenen Jahren nur auf verschlungenen oder untergründigen Pfaden verbreiten lässt.

Hinterlassen hat Alice James ein Tagebuch, das sie erst in ihren letzten Lebensjahren begonnen hat, mit 43 ist sie an Brustkrebs gestorben. Darin entpuppte sich die Vollinvalidin als geistreiche Beobachterin und spitzzüngige Kommentatorin jener Gesellschaft, der sie verweigerte. In vollem Umfang erschienen diese Aufzeichnungen erst in den 1960er Jahren, sie beförderten James posthum zur feministischen Beinahe-Ikone, der unter anderem auch Susan Sontag ihr einziges, im Übrigen recht konventionelles Stück gewidmet hat, das Anfang der 1990er Jahre in Bonn uraufgeführt wurde.

Etwas mehr Mut zur Abstraktion hätte Regisseurin Antonia Ortmanns gutgetan

Antonia Ortmanns drapiert ihre doppelte Alice auf und unter wallenden Tüchern, ein Rückzugsbett mit Baldachin. Die Laken werden jedoch nach und nach heruntergerissen, bis allein die kargen Containerwände der Grotte bleiben. Schnüre, die von der Decke hängen und in denen Sachau sich einwickelt oder die Purwin aus ihrer Bluse zieht und um die Körpermitte fesselt, repräsentieren die Zwangsjacke bürgerlicher Konventionen.

Da hätte man der Regisseurin etwas mehr Mut zur Abstraktion gewünscht, eindringlicher wirken da schon die von den beiden Akteurinnen mithilfe einer Loopstation in Echtzeit erstellten Klangcollagen. Am überzeugendsten aber gelingt das Wechselspiel von Janina Sachau und Brit Purwin, die – mal schwesterlich umschlungen, mal sich auf zwei Seiten eines halb verspiegelten Glases gegenüberstehend – die Zuschauenden immer fester in den Dialog ihrer Figur mit sich selbst einspinnen.

Ausgerechnet der Krebs – endlich mal eine handfeste Diagnose und keine psychologische Zuschreibung – befreit sie: „Deine Reifröcke, dein Korsett, deine Zwangsjacke“, berichtet Alice, „jetzt leere Hüllen an einem anderen Ort, so als ob du geschlüpft wärst, aus deiner Verschalung, diesem harten Kokon.“

Verspricht einzig der Tod Befreiung vom Patriarchat? Kann man zur selbstständig handelnden Person werden, ohne sein Bett zu verlassen? War Alice James Opfer oder Kämpferin? Der Abend wirft viele Fragen auf und hält sie lange genug in der Schwebe, um einfache Antworten zu verhindern. Am besten konnte wohl Alice James sich selber einschätzen: „Obwohl ich keinen produktiven Wert habe“, schreibt sie in ihrem Tagebuch, „besitze ich einen gewissen Wert als unzerstörbare Größe.“

Termine: 7., 16., 24., 30. Januar (alle ausverkauft, eventuell noch Restkarten an der Abendkasse), 22., 27. Februar,   20 Uhr, 70 Minuten, keine Pause.

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