Dürrenmatts 100. GeburtstagLiteratur darf nicht trösten

Friedrich Dürrenmatt
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Erhaben thront das Anwesen Friedrich Dürrenmatts oberhalb von Neuchâtel, der Blick geht weit über die Stadt und den See. Zwar blieb das Verhältnis des Deutschschweizers zu seinen französischsprachigen Nachbarn immer etwas distanziert, doch wurde der Ort für 38 Jahre zum Mittelpunkt seines Schaffens. Denn Dürrenmatt ging ungern auf Reisen, überhaupt bot sein Lebenslauf wenig Spektakuläres.
Er habe gar keine Biografie, sagte er selbst manchmal – so wenig hatte sein bürgerlicher Alltag von einer aufregenden, von vielen Brüchen gezeichneten Künstlerbiografie. Er reiste nicht gern, war lieber zu Hause mit seiner Frau, den drei Kindern und den Haustieren.
Und doch hat Friedrich Dürrenmatt, der vor 100 Jahren, am 5. Januar 1921, als Sohn eines Pfarrers im Emmental geboren wurde, es zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gebracht. Seinen Glauben hat Dürrenmatt früh verloren, das Thema blieb aber zeitlebens wichtig für ihn. In Bern studierte er Philosophie, widmete sich vor allem Kierkegaard, über den er eigentlich promovieren wollte. In seinen Erzählungen und Theaterstücken wimmelt es von biblischen Geschichten und Gleichnissen, christlichen Themen oder zumindest Motiven.
Quälende Schulzeit
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Dürrenmatt, der sich selbst durch seine Schulzeit quälte, vielen vor allem als Schullektüre begegnet. Ob „Die Physiker“, „Der Besuch der alten Dame“, „Der Richter und sein Henker“ oder „Das Versprechen“ – viele seiner Werke gehören zum Lesekanon. Doch wäre es falsch, den Schweizer im Nebel der Kindheitserinnerungen verschwinden zu lassen. Denn vieles, was ihn zu einer populären Schullektüre macht, macht ihn auch für ältere Leser interessant.
Seine Stücke und Romane sind leicht zugänglich, die Themen, die er verhandelt, so aktuell wie zu dem Zeitpunkt, als sie entstanden: Moral, Schuld, die Verantwortung des Einzelnen, die Rolle der Wissenschaft, die für ihn besonders wichtig war. In „Die Physiker“ stellt er die Frage nach der Macht – und Ohnmacht – der Wissenschaft. Ein Thema, das nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.
Ende gut, alles gut, diese Formel galt für ihn nie. „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“, betonte er. Den Weg dahin schilderte er mit vielen grotesken Wendungen.
Der Mensch hat immer die Wahl
Sein Humor macht vieles erträglich, was eigentlich nur schwer zu ertragen ist. Und immer macht er deutlich, dass auch ein anderer Ausgang möglich gewesen wäre, dass die Menschen trotz aller Verlockungen und Schicksalsschläge eine Wahl haben.
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So ist es schon in seinem ersten großen Erfolg von 1955: „Der Besuch der alten Dame“. Das Stück über eine Milliardärin, die nach Rache sinnend in ihren Heimatort zurückkehrt, machte ihn bekannt, die anfänglichen Geldsorgen hatten sich schnell erledigt. Es waren seine erfolgreichsten Jahre. Bis Anfang der 60er entstanden die Werke, die ihn berühmt gemacht haben.Literatur war für ihn dabei nie Selbstzweck. „Sie ist in ihrer Gesamtheit das Gewissen der Menschheit, eine ihrer Dokumentationen“, schrieb er. Und: „Die Menschheit spiegelt sich in der Literatur, muss sich in ihr spiegeln, um nicht zu erblinden. Wagen wir den Blick in diesen Spiegel.“
Erbaulich oder Mut machend sollte sein Werk hingegen nicht sein. „Ich habe einmal gesagt, das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist, dass ich an einer Buchhandlung vorübergehe und dort im Fenster ein Büchlein sehe: »Trost bei Dürrenmatt«. Dann muss ich sagen: Jetzt bin ich fertig. Literatur darf keinen Trost geben. Trost können andere Dinge geben. Literatur, glaube ich, darf nur beunruhigen.“
Liebe zur Malerei
Neben der Schriftstellerei widmete sich Dürrenmatt der Malerei. Der Autodidakt schöpfte seine Inspirationen aus den unterschiedlichsten Quellen. Oft nehmen sie Bezug auf biblische Themen, insbesondere auf den Turmbau zu Babel oder die Kreuzigung. Ebenfalls häufig vertreten sind mythologische Motive wie der Minotaurus oder der Atlas.„Meine Zeichnungen sind nicht Nebenarbeiten zu meinen literarischen Werken, sondern die gezeichneten und gemalten Schlachtfelder, auf denen sich meine schriftstellerischen Kämpfe, Abenteuer, Experimente und Niederlagen abspielen“, schrieb er.Dürrenmatt wurde mit vielen Auszeichnungen bedacht, nur den Literaturnobelpreis erhielt er – wie sein Landsmann Max Frisch – nie. Er wird es verschmerzt haben, wusste er doch, dass es auf etwas anderes ankommt. Für ihn war der Schriftsteller wie ein Meteor. Er leuchtet kurz am Himmel auf, aber wenn er einschlägt, hinterlässt er bleibende Spuren. Friedrich Dürrenmatt ist das gelungen.
Ulrich Webers neue, umfassende Dürrenmatt-Biografie ist vor kurzem im Diogenes Verlag (752 Seiten, 28 Euro) erschienen.