Interview mit Elke Heidenreich„Ich plädiere dafür, keinen Hochmut zu haben“

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Elke Heidenreich

  • Die Autorin und Kritikerin Elke Heidenreich spricht im Interview über die große Macht der Literatur, ihre Liebe zu Gedichten – und die Notwendigkeit, gerade jetzt viel zu lesen.
  • Und sie empfiehlt Bücher, die glücklich machen.

Köln – Frau Heidenreich, Bücher begleiten Sie schon sehr lange. Können Sie sich noch an Ihre erste Leseerfahrung erinnern?

Meine Mutter hat mir immer Geschichten erzählt, zum Teil selbst erfundene. Sie war sonst gar nicht so fantasievoll, aber damit hat es angefangen. Das waren kleine Geschichten, die wir dann weitergesponnen haben. Die ersten Bücher, an die ich mich erinnere, sind zwei. Die „Häschenschule“ und das erste Buch, das mich vollkommen verzaubert hat und zeitlebens eines meiner liebsten geblieben ist: „Doktor Dolittle und seine Tiere“ von Hugh Lofting. Das war ein kleiner, dicker Doktor in England, der die Arroganz der Menschen leid war und sich nur noch um die Tiere gekümmert hat. Er hat die Tiersprache gelernt, ist in den Urwald gegangen und hat nur noch mit Tieren gelebt und geredet. Das fand ich so toll, dass ich auch die Tiersprache lernen wollte. Und ich sage Ihnen, ich kann es – bis heute. Wenn man sich Mühe gibt, versteht man genau, was sie meinen.

Lesen war wichtig in Ihrer Kindheit?

Ich war ein einsames Kind in der Nachkriegszeit. Die Eltern waren beide berufstätig, schlechte Ehe, viel Krach zu Hause. Und ich war das ewig kränkelnde Einzelkind, das immer in der Ecke saß und las. Das lesende Kind ist das bequeme Kind. Aber es wird irgendwann das schwierige Kind, weil es sich wegliest aus seiner Umgebung. Es weiß, es gibt ein anderes Leben als das, was es hat. Die Bücher haben mir eine Welt gezeigt, die es bei mir zu Hause nicht gab und die ich kennenlernen wollte. Das Lesen hat mein Leben verändert.

Auch in der Pubertät? Da fühlt man sich ja immer unverstanden.

Weil man nicht mehr Kind ist, aber auch noch nicht erwachsen. Meine Mutter fand mich aufsässig. Damals wusste man noch nicht, was Pubertät ist und dass man kein Kind schlägt. Ich war auf der Suche nach mir selbst und nach einem bisschen Liebe, nach einem Anker in meinem Leben. Heute weiß ich das, aber mit 13, 14 wusste ich es nicht. Da haben mich Bücher gerettet, weil ich in ihnen zum Teil die Probleme wiederfand, die ich selbst hatte.

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Hat Sie ein Buch besonders geprägt?

„Das Herz ist ein einsamer Jäger“ von Carson McCullers: Die kleine Mick aus einer armen Familie, die jeden Abend in die Viertel der reichen Leute geht, sich unter die Fenster setzt und Radio hört, besonders liebt sie einen gewissen „Motsart“. So war ich auch. Ich habe gemerkt, es gibt Schönheit, es gibt Dinge außerhalb meines Zuhauses, die ich haben möchte. Vor allem haben mir da aber Gedichte geholfen.

Welche Gedichte?

Das waren Gedichte von Mascha Kaléko, Erich Kästner. Einfache Sachen, die sich reimen. Dann kamen Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler. Ich habe in den Gedichten eine große Sehnsucht und Erotik gespürt. All das, was in mir gärte und kochte. Ich habe mich verstanden gefühlt. Man merkt, man ist mit seinem Kummer nicht allein auf der Welt. Wenn jemand unglücklich verliebt ist, krank ist oder Angst hat und sich verlassen fühlt: Die Dichter kennen das alles und haben es aufgeschrieben. Das tröstet. Man weiß, man hat nicht alles falsch gemacht. Es geht anderen auch so.

Lesen ist Lebenshilfe?

Lesen hilft bei allem. Lesen ist nicht nur eine Bildungssache. Ja, man wird klüger, man lernt, was Sprache ist. Aber es ist immer auch Trost. Oder auch einfach Unterhaltung, die mich in ferne Welten trägt, die exotisch sind. Da bin ich drei Stunden abgelenkt von meinem Kummer, das gibt mir Kraft. Dann kann man hinterher weiterleben. Das war bei mir immer so. Mein ganzes Leben lang haben mich die Bücher getröstet, mir Dinge erklärt, mir geholfen, Dinge zu verändern, weil man es kann, weil andere in den Büchern es auch konnten. Nicht jede Liebe falsch zu machen. Wenn man einmal „Madame Bovary“ liest, weiß man, was so bescheuert ist, dass man am Ende Gift nehmen muss. Es ist eine Mischung aus klüger werden, unterhalten werden, abgelenkt werden, aber auch getröstet und geleitet werden. Bücher können viel leisten.

Und sie sind perfekt für diese Zeiten.

Ja. Jetzt, wo wir alle zu Hause sitzen, kann man nichts Besseres tun als Lesen. Man kann Musik hören und den Kleiderschrank aufräumen, das ist sinnvoll, aber irgendwann sollte man mit einem Glas Wein auf dem Sofa liegen und eine Geschichte lesen, die einen wegträgt und einen durch diese Zeit begleitet.

Gibt es Bücher, zu denen Sie immer wieder zurückkehren?

Inzwischen nicht mehr. Außer Gedichte, die habe ich immer auf dem Nachttisch liegen. Gottfried Benn, Rainer Maria Rilke, Anna Achmatova. Wisława Szymborska liebe ich sehr. Gedichte habe ich immer um mich rum. Als ich jünger war, habe ich Bücher mehrmals gelesen, aber heute nicht mehr. „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ ist das einzige Buch, das mich durch das ganze Leben begleitet hat.

Gibt es einen Autor oder eine Autorin, den oder die Sie Lese-Einsteigern empfehlen?

Ja, Meg Wolitzer. Die empfehle ich Leuten, die nicht so viel lesen, die Angst vor dicken Büchern haben. Sie ist leicht zu lesen und erzählt immer Geschichten aus dem Leben. „Die Interessanten“ zum Beispiel über Jugendliche, die sich in New York kennenlernen. Die einen kommen aus privilegierten Haushalten, haben alle Chancen, die andern aus armseligen Verhältnissen. Wer schafft es später im Leben? Eigentlich eher die Armseligen, weil sie viel mehr kämpfen müssen. Meg Wolitzer reißt mich immer mit, beunruhigt mich aber nicht innerlich. T.C. Boyle ist auch immer gut zu lesen. Das sind irre Bücher, das kann jeder lesen. Die sind nicht kompliziert.

Es darf nicht zu kompliziert sein?

Bei meiner Sendung „Lesen“, die ich bis 2008 gemacht habe, habe ich angefangen mit Büchern wie „Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück“ und „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“. Das waren ganz einfach geschriebene Sachen, kein schwieriger Krempel. Da wurde ich von vielen Leuten angefeindet, Denis Scheck tat es als Alter-Tanten-Kram ab. Das ist eine Frechheit. Es gibt auch alte Tanten, die lesen wollen. Die sind nicht alle gebildet, haben nicht alle Literatur studiert. Die interessieren sich nicht für die Literatur des Bachmann-Preises.

Die brauchen einfach guten Lesestoff?

Ja, die wollen sich trauen. Ich habe immer Bücher vorgestellt, bei denen man sich trauen kann. „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer etwa ist ein wunderbarer E-Mail-Roman. Ich liebe solche Bücher. Die sind einfach, die sind literarisch nicht bedeutend, aber das sind schöne Geschichten, toll erzählt. Das hilft enorm zum Einstieg. Und dann kann man sich ja an anderes wagen. Man muss einfach anfangen. Kleine Geschichten. Wenn man das macht, bekommt man die Leute ans Lesen. Mit Arroganz ist da nichts zu machen.

Ist es arrogant, wenn viele Kritiker in Deutschland sehr kritisch auf die Bestsellerliste schauen?

Ich plädiere immer dafür, keinen Hochmut zu haben. Es wird verkauft, weil viele Leute es lesen wollen. Ich stand mit allen meinen Büchern auf der Bestsellerliste, und ich schäme mich nicht, sondern freue mich sehr darüber. Wofür machen wir es denn? Dass es im Schrank liegt und drei Leute sagen „Das ist aber fein gestrickt“? Es braucht etwas, das das Herz und den Kopf erreicht. Man muss irgendwo anfangen. Weglegen kann man ein Buch immer noch. Wir sind ja keine Schulkinder mehr.

Macht Lesen uns auch empathischer?

Ja, das fängt ja schon bei Dr. Dolittle an, wenn man ein Kind ist und noch gar nicht weiß, was Empathie ist. Man spürt das Mitleid dieses Mannes mit den Tieren. Auch mit Menschen hat man mehr Mitgefühl, wenn man ihre Geschichten liest, wenn man um ihre Qualen weiß. Die ganzen Russen handeln ja von solchen Qualen. Auch Kafka. Wenn du dein Leben lang versuchst, irgendwo reinzukommen, aber die Tür ist immer zu hoch. Du stehst davor und kommst nicht rein und erfährst am Ende des Lebens, die Tür war nur für dich, du hättest einfach durchgehen müssen. Das macht empathisch, mitfühlend. Man schaut Menschen anders an, wenn man viele Geschichten über sie gelesen hat.

Literatur macht uns zu besseren Menschen?

Literatur hat eine aufklärerische Wirkung, sie kann Menschen besser machen, genau wie Musik. Daran glaube ich fest. Wer das Requiem von Mozart oder die Bach-Kantaten hört, kann nicht mit einem Gewehr auf einen anderen losgehen. Das ist etwas Großartiges, das wir haben. Das macht uns zu Menschen. Wer in seinem Leben keine Bücher hat, ist arm dran. Da fehlt etwas.

Das Gespräch führte Anne Burgmer 

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