Kultur-Redaktion empfiehlt LesestoffDas sind die besten Bücher für Ihren Urlaub!

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Da fehlt doch noch was! Richtig: mindestens ein gutes Buch!

Die Sommerferien haben begonnen und Sie haben noch keine gute Buch-Lektüre? Dann sind die folgenden Buchtipps der Kultur-Redaktion vielleicht eine Inspiration für Sie.

Kent Haruf: „Kostbare Tage“

Dad Lewis macht sich nichts vor. Er wird bald sterben. Der Krebs hat sich festgesetzt in seinem Körper, und kein Arzt kann dem unsichtbaren Feind jetzt noch Einhalt gebieten. „Noch ehe der Sommer vorbei wäre, wäre er tot. Anfang September würde man draußen auf dem Friedhof, drei Meilen östlich von der Stadt, Erde über ihn schütten, auf das, was von ihm übrig war. Man würde seinen Namen auf einen Grabstein meißeln, und dann wäre es so, als hätte es ihn nie gegeben.“ Ein Monat Zeit hat der alte Mann, um Abschied zu nehmen von einem Leben in Holt, Colorado. Abschied von Mary, die er vor mehr als 60 Jahren geheiratet ist. Von Lorraine, der Tochter, die nach seinem Tod das Eisenwarengeschäft in der Main Street übernehmen soll. Einen Monat Zeit auch, um Frieden zu schließen mit einem homosexuellen Sohn, mit dem Dad Lewis vor vielen Jahren gebrochen hat und der ihn nur noch in seinen Tagträumen besucht.

Wehmut durchziehet dieses anrührende Buch von Kent Haruf, der 2014, ein Jahr nach dessen Erscheinen in den USA, starb. Sechs Romane hat der High-School-Lehrer aus Pueblo, Colorado, innerhalb von knapp 30 Jahren geschrieben. „Kostbare Tage“ ist sein vorletztes Werk. Der Schauplatz in Harufs Romanen ist stets der gleiche, und er umfasst kaum mehr als ein paar Straßenzüge in der fiktiven Kleinstadt Holt. Der Ort liegt irgendwo in den Weiten Colorados. „Nach Osten und Süden hin gab es noch mehr Hügel, weit im Norden die Stadt mit den weißen Getreidesilos, die sich über der grünen Masse der Bäume erhoben, und ansonsten sah man nur flaches, weites Land.“ Und doch bedeutet Holt für Harufs Figuren die ganze Welt. „Die Theke und dieser kleine Handel zwischen zwei Kunden und mir an einem Sommermorgen. Ein kleines Schwätzchen“, das sei sein Leben gewesen, sagt Dad Lewis, als er sich kurz vor seinem Tod ein letztes Mal durch die Stadt fahren lässt. Eine Decke über den mageren Beinen, zieht er Bilanz. Was hätte er anders machen können, wo hat er gefehlt, wessen hat er sich schuldig gemacht?

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Wir begleiten Dad Lewis bis zu seinem letzten Atemzug. „Ein leises Seufzen, sie warteten, betrachteten sein Gesicht, warteten… warteten, doch es kam nichts mehr, mehr würde nicht mehr sein, er würde nie mehr atmen.“ Dad Lewis ist tot. Doch „Kostbare Tage“ ist weit mehr als der Abgesang auf einen sterbenden alten Mann. Harufs Protagonisten sind schlichte Menschen mit bescheidenen Wünschen und der Fähigkeit, das Leben im Kleinen zu feiern.

Da ist zum Beispiel Alice, ein mageres Ding, das nach dem Tod der Mutter bei der Großmutter aufwächst. Wunderbar die Szene, als die Kleine an einem Sommertag mit drei Frauen in eine eiskalte Viehtränke steigt und zum ersten Mal die tragende Kraft des Wassers spürt. „Als sie zu sinken begann, hoben sie sie etwas an, und nach einer Weile konnte sie selbst oben bleiben, sie zogen sich zurück, und Alice lag halb untergetaucht auf dem Wasser, die blauen Augen offen zum klaren Himmel gerichtet.“

Überhaupt, die Frauen in diesem Buch: Mary, die in Denver vergebens nach dem verschollenen Sohn sucht, damit Dad ihn vor seinem Tod noch einmal sehen kann. Alene, die als junge Frau einen verheirateten Mann liebte und in Holt ein halbes Leben lang als Flittchen galt. Ihre Mutter Willa, die dem Gemeindevorstand die Meinung geigt, als der den allzu liberal denkenden Pfarrer entlassen will. Es sind Szenen wie diese, die Harufs Roman so liebens- und lesenswert machen. Umso bedauerlicher ist es, dass dieser großartige Chronist des amerikanischen Alltagslebens nur sechs Bücher geschrieben hat.

Kent Haruf: „Kostbare Tage“, deutsch von Pociao und Roberto de Hollande, Diogenes, 346 Seiten, 24 Euro, E-Book: 20,99 Euro. 

Petra Pluwatsch

Anna Kavan: „Eis“

Im Jahr 1939, nach dem Scheitern ihrer zweiten Ehe, nach Suizidversuchen und anschließendem Sanatoriumsaufenthalt, beschließt Helen Ferguson fortan lieber als Fiktion zu existieren. Sie färbt ihr Haar eisblond, verbrennt ihre Tagebücher und Korrespondenzen und nimmt den Namen der Heldin ihrer früheren Romane an: Anna Kavan.

Als solche ändert sie ihren Stil, schreibt jetzt oft in der ersten Person, zugleich aber härter, klarer und kaum noch autobiografisch. In den 1920er Jahren haben Autorennfahrer an der französischen Riviera sie mit der euphorischen Wirkung des Heroins bekannt gemacht, sie wird die Droge für den Rest ihres Lebens nehmen. Die Romane und Erzählungen, die sie als Anna Kavan verfasst, durchpulst die kühle Indifferenz der Heroinsüchtigen gegenüber der sogenannten Realität. Die Welt ist ein Rätsel ohne Lösung, die Wirklichkeit ein unsicherer Grund, jeder Schritt kann in den Abgrund des Wahnsinns führen. Den Anklang von „Kavan“ an „Kafka“ hat die Neugeborene durchaus beabsichtigt. Im angloamerikanischen Raum erlebt das Werk der 1968 gestorbenen Autorin gerade eine Renaissance. Das mag daran liegen, dass Kavans Themen – so argumentiert jedenfalls ein Artikel im „New Yorker“ – heute mehr als zu ihren Lebzeiten von brennendem Interesse sind: „Opioidabhängigkeit, extremes Wetter, Unterdrückung der Frau, Psychopathologie“. Hierzulande war Anna Kavan bislang eine Unbekannte.

Nun ist zum ersten Mal eine (hervorragende) deutsche Übersetzung ihres letzten Romanes, der auch als ihr Hauptwerk gilt, im Schweizer Verlag Diaphanes erschienen: „Eis“ ist eine Endzeitgeschichte, ein Science-Fiction-Roman und dann doch wieder etwas ganz anderes. Man stelle sich vor, Franz Kafka hätte bewusstseinsverändernde Substanzen eingenommen, um sich dann an das Drehbuch zu Roland Emmerichs Klimakatastrophenfilm „The Day After Tomorrow“ zu setzen. Klingt absurd, der Plot jedoch ist relativ geradlinig: Der Erzähler, von dem wir nur erfahren, dass er den größten Teil seines Lebens als Söldner oder Forschungsreisender im Ausland verbracht hat, jagt einer Frau hinterher, während die gesamte Erde von einer Eisschicht überzogen zu werden droht.

Ob ein atomarer Konflikt diese neue Eiszeit ausgelöst hat, oder ob es erst angesichts schwindender Ressourcen zu einem solchen kommt, bleibt unklar. Ebenso die Frage, was der Erzähler eigentlich von der jungen Frau will, die er als geborenes Opfer, als zerbrechliches Wesen, „ihr Haar hell wie gesponnenes Glas“ beschreibt, die ihrem vermeintlichen Retter jedoch immer dann, wenn er es geschafft hat, sie einzuholen, schroff und durchaus selbstbewusst, dazu auffordert, sie endlich in Ruhe zu lassen.

Es gibt noch eine dritte Person, ein Warlord, „der Wächter“ genannt, die Besitzansprüche auf die gläserne Frau erhebt, aber den Leser beschleicht nach und nach der Verdacht, es könnte sich bei ihm um eine schizophrene Abspaltung des stalkenden Erzählers handeln. Denn immer wieder driftet dessen atemlose Geschichte ins Halluzinatorische ab, in abenteuerliche Träume, die wie eine Vorausahnung heutiger Computerspiele wirken. Und letztendlich ist wohl der gesamte Roman eine Simulation, Dokument einer inneren Vergletscherung.

Der Plot jedenfalls verliert sich absichtsvoll in eisiger Leere, man denkt an Viktor Frankenstein, der am Ende von Mary Shelleys Roman seiner Kreatur, als Teil seines Selbst, durch die Arktis nachjagt. „Eis“ führt den Leser brillant, aber unbarmherzig aufs Glatteis. Es ist ein Buch für den noch schmalen Kanon des Anthropozäns, eigentlich eine Pflichtlektüre.

Anna Kavan: „Eis“, deutsch von Silvia Morawetz und Werner Schmitz, Diaphanes, 184 Seiten, 18 Euro, E-Book: 14,99 Euro. 

Christian Bos

Jason Starr: „Seitensprung“

Irgendwann hatte Jack Harper Träume. Doch aus der großen Rock-Karriere ist so wenig geworden wie aus dem Glück mit Maria. Allein der gemeinsame Sohn Jonah hält die kriselnde Ehe noch zusammen, während Jack als abschlussschwacher Immobilienmakler in Manhattan ebenfalls hart am Abgrund steht. Dann kommt der Mann, der alles ändern könnte: Jugendfreund Rob McEvoy, einst Band-Kumpel, nun Musikmogul in Los Angeles, der sich für ein Zwei-Millionen-Dollar-Liebesnest in New York interessiert. Jack hofft auf die Provision – und bekommt als Zugabe noch ein Patentrezept gegen amouröse Tristesse empfohlen: das Dating-Portal „Discreet Hookups“.

„Seitensprung“ heißt Jason Starrs neuer Roman und warnt die Leser schon vorab mit einem Zitat von Norman Mailer: „Sex ist nicht safe und wird es niemals sein.“ Doch Jack hat nun einmal kein Paradies zu verlieren, wenn er von der verbotenen Frucht nascht. So loggt er sich auf der Website ein und findet eine erfreulich gleichgestimmte Chat-Partnerin. Doch natürlich bleibt es nicht beim digitalen Plausch, der bald ins Pornografische umschlägt. Als der Liebeshungrige zum ersten Rendezvous eintrifft, findet er aber das Objekt der Begierde ermordet im noblen Townhouse vor. Nach kurzer Panik und einem vergeblichen Wiederbelebungsversuch ruft er die Polizei und steht prompt unter dringendem Tatverdacht.

Der 1966 in Brooklyn geborene Autor („Twisted City“, „Phantasien“) ist gewissermaßen Experte für Männer im freien Fall. Mit kristallscharfer Prosa schlitzt er den Kokon bürgerlicher (Schein-)Sicherheit auf und lässt die Opfer seiner Eskalationskunst entweder in Zeitlupe zur Hölle fahren oder im Fegefeuer schmoren.

Wie heiß es dort werden kann, bekommt der 44-jährige Ich-Erzähler bald zu spüren. Denn obwohl der trockene Alkoholiker schuldlos-schuldig allein seiner Gelüste wegen, aber nicht nach vollzogener Untreue in die Bredouille gerät, könnte sein Sturz kaum tiefer sein: Ein sadistischer Detective bringt den Namen des Verdächtigen in die Zeitung und macht dessen Abwege auch Maria klar. Die fackelt nicht lange, sperrt gemeinsame Konten, wechselt die Türschlösser aus und erwirkt ein Kontaktverbot mit Jonah.

Man kennt diese Zwangsläufigkeiten aus Filmen wie „Fatal Attraction“, doch bei Starr erscheint nichts schematisch. Sowohl Jacks Berufsmilieu wie auch das familiäre Krisengebiet wirken dank nuancierter Zeichnung absolut glaubwürdig. Ob dies auch für die gebrochene Hauptfigur gilt, lässt sich immer schwerer sagen. Mit jedem Versuch, seiner Misere zu entrinnen, vergrößert Jack sie nur, und auch der Blutzoll steigt gewaltig. Und wenn man gerade selbst an der Zuverlässigkeit des Erzählers zu zweifeln beginnt, fragt sich dieser ebenfalls, ob er denn nun bedauernswertes Opfer oder womöglich doch Täter sei.

So trittsicher wie dieser Autor ist kaum jemand im Unwägbaren unterwegs. Er überzeugt mit der Ausleuchtung moralischer Grauzonen, der fast körperlich spürbaren Beschwörung von Psychostress und vor allem mit dramaturgischer Finesse. Oft haben Romane wie dieser Probleme, aus ihrem kunstvoll angelegten Indizienlabyrinth einen auch nur halbwegs glaubhaften Ausweg zu finden. Rollt man dann die Story rückwärts noch einmal auf, zeigen sich logische Brüche. Nicht so bei Starr. Auf der Zielgeraden der Geschichte scheint vom Selbstmord des in die Enge Getriebenen bis zum Happy End alles möglich. Doch das abgefeimte Finale enthüllt ein Komplott, dessen satanisch ausgeklügelte Boshaftigkeit hoch über der gängigen Thriller-Konkurrenz steht.

Jason Starr: „Seitensprung“, deutsch von  Thomas Stegers, Diogenes, 393 Seiten, 16 Euro, E-Book: 13,99 Euro.

Hartmut Wilmes

Alice Hasters „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten“

Bei manchen Büchern dauert es ein wenig, bis sie die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. So ist es auch bei Alice Hasters’ bereits im September 2019 erschienenem Sachbuch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten“ (hanserblau, 208 Seiten, 17 Euro). Das findet sich erst jetzt, im Zuge der durch die Ermordung George Floyds ausgelösten Debatte über Rassismus auf der Bestsellerliste, aktuell auf Platz 3. Und allen, die sich fragen wie groß das Rassismus-Problem in unserem Land ist, sei dieses Buch ans Herz gelegt.

Die gebürtige Kölnerin Alice Hasters, die nun als Journalistin in Berlin lebt, verwebt ihre persönlichen Erlebnisse mit historischen Fakten und den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen. So gelingt es ihr, das Thema Rassismus auf unterschiedlichen Ebenen zu beleuchten.

Sie erzählt sehr persönlich von ihren Erfahrungen, offenbart ihre eigene Verletzlichkeit und die Verletzungen, die ihr zeitlebens zugefügt wurden. Sie macht deutlich, wie es sich anfühlt, wenn sie, die sich als konfliktscheu beschreibt, jeden Tag mit sich ringen muss, ob sie Menschen darauf hinweist, dass Sätze wie „Aber wo kommst du wirklich her?“ oder „Sie sprechen aber gut Deutsch“ eben nicht nur harmloses, freundliches Interesse ausdrücken. Sie folgen vielmehr rassistischen Denkmustern, weil solche Aussagen Menschen ausschließen, weil sie ihnen verwehren, ganz selbstverständlich und unhinterfragt Teil einer Gemeinschaft zu sein, zu der andere sich stets zugehörig fühlen dürfen.

Hasters erläutertet anschaulich, warum es uns so schwer fällt, über Rassismus zu sprechen. Weil viele Angst haben, in eine rechte Ecke gestellt zu werden, wenn sie einräumen, etwas Rassistisches gesagt zu haben. Ein konstruktives Gespräch sei dann kaum noch möglich und sie meist damit beschäftigt auf die Befindlichkeiten ihres Gegenübers einzugehen – und ihre Gefühle spielen plötzlich keine Rolle mehr.

Ihr Buch mit dem etwas sperrigen, aber zutreffenden Titel liest sich sehr gut und dennoch ist die Lektüre anstrengend, weil Hasters vermittelt, was Weißen nur schwer zu vermitteln ist: Dass die Farbe ihrer Haut in allen Lebensbereichen eine Rolle spielt – und sie davor nicht einfach weglaufen oder die Augen verschließen kann. In einer Gesellschaft, in der struktureller Rassismus tief verankert ist, reicht es eben nicht zu sagen, man sehe keine unterschiedlichen Hautfarben. Ein kluger und wichtiger Beitrag zur aktuellen Debatte.

Alice Hasters „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten“

Anne Burgmer

Anita Brookner: „Hotel du Lac“

Bei der Suche nach dem Lebensglück setzen Menschen auf kaum etwas so sehr wie auf die Beziehung zu einem anderen Menschen – und oft ist genau das die Hürde, an der sie scheitern. Denn nichts macht verletzlicher, kein Gefühl stellt mehr Fallen, hält mehr Abgründe bereit und hat ein größeres Katastrophenpotenzial als die Liebe. Das weiß auch Edith Hope, die Hauptfigur in Anita Brookners Roman „Hotel du Lac“. Denn Edith ist gewissermaßen Expertin, theoretisch wie praktisch. Theoretisch beschäftigt sie sich als Schriftstellerin mit dem Thema Liebe (und das recht erfolgreich), praktisch hat sie als hGeliebte David Simmonds, eines verheirateten Mannes, einschlägige Erfahrung (ohne jeden Erfolg). 

Bei dem Versuch, sich aus der unglücklichen Liaison zu befreien, geht sie auf das Werben eines ebenso netten wie letztlich doch eher langweiligen Geoffrey Long ein, an dessen Seite sie ein beschauliches, abgesichertes Leben führen will. Aber will sie das wirklich? Die Zweifel nehmen zu und am Tag der Hochzeit, auf dem Weg zum Standesamt, zieht sie die Reißleine. Während Bräutigam, Freunde und Verwandte vergeblich warten, sieht sie wie in einem Film eine spießige Zukunft vor sich, die ihr wie ein Ticket in ein ganz und gar unerträgliches Leben vorkommen.

Selbst bei engsten Freunden findet Edith kein Verständnis für ihr Verhalten. Wie kann man, so der Vorwurf, als nicht mehr ganz junge Frau so eine Chance mit Füßen treten. Dem Rat ihrer Freundin folgend, zieht sich Edith Hope eine Weile aus dem Verkehr. Sie mietet sich am Genfer See in ein Hotel ein, um Gras über die Angelegenheit wachsen zu lassen und einen Roman zu Ende zu schreiben. Dort verbringt sie im Kreis einer illustren Gästeschar den Spätsommer, beobachtet die anderen, alle auf ihre jeweils ganz eigene Weise unglücklichen Frauen und stellt fest, dass ihre Menschenkenntnis zwar ausreicht, in Romanen komplizierte Beziehungen zu entwickeln, sie aber im realen Leben von Fehlurteil zu Fehlurteil stolpert – mit fatalen Folgen für andere und sich selbst.

Daraus hätte sie lernen können, sicher. Aber sie ist dabei, dem alten Muster treu zu bleiben und das nächste Verhängnis auszulösen. Denn mit dem unterkühlten, beziehungsgeschädigten Philip Neville tritt nun ein weiterer potenzieller Partner in ihr Leben. Er ist von anderem Format als Geoffrey, seine Weltsicht ist abgeklärt, fast zynisch. Vor allem aber justiert er Edith Hopes Blick auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen neu. Für ihn ist die Grundlage einer gelingenden Ehe nicht Liebe und Treue – beides sieht er eher als hinderlich. Da beide davon überzeugt sind, dass fehlende Liebe ein Schlüssel zum Glück sein könnte, wäre das schon mal eine gute Grundlage für eine gemeinsame Zukunft. Doch trägt das wirklich?

Wie immer bei solchem Stoff ist das Wie entscheidender als das Was. Wie Anita Brookner diesen Stoff umsetzt, ist schlicht meisterhaft. „Hotel du Lac“ ist der vierte Roman Brookners, einer renommierten Kunsthistorikerin mit Lehrstuhl in Cambridge. Erschienen ist er bereits 1984 und hat seinerzeit den Booker Prize gewonnen – in der englischsprachigen Literatur geradezu ein Adelsprädikat.

Es ist ein Verdienst des jungen, ambitionierten Eisele Verlags, diesen Schatz dem drohenden Vergessen zu entreißen. Das könnte nicht zuletzt deshalb erfolgreich sein, weil der Roman mit der einflussreichen Literaturkritikerin Elke Heidenreich eine ebenso sachkundige wie prominente Fürsprecherin hat, die mit einem klugen, empathischen Vorwort ein zusätzliches Argument für die Lektüre Anita Brookners geliefert hat.

Anita Brookner: „Hotel du Lac“, deutsch von Dora Winkler, Eisele Verlag, 224 Seiten, 20 Euro, E-Book: 16,99 Euro. 

Michael Hirz

Vanessa Springora: „Die Einwilligung“

Das Wichtigste steht bereits in Großbuchstaben auf dem Buchcover. Eine junge Frau, die sexuell schwer missbraucht wird, muss sich selbst dabei nicht als Opfer fühlen. Sie kann sogar einverstanden damit sein. Freiwillig Macht und Erniedrigung über sich ergehen lassen, ein System bejahen, das ihr die Jugend und – wenn sie Glück hat: nur – Teile ihres Lebens rauben wird. Das definitiv Opfer ist und bleibt, sich dabei aber noch von Vorwürfen zerfleischen lässt, eigenen wie fremden.

„Die Einwilligung“ heißt das autobiografische Buch der französischen Autorin Vanessa Springora, das im Januar 2020 größere Schockwellen und polizeiliche Ermittlungen in ihrem Heimatland auslöste und jetzt auf Deutsch erschienen ist. Das Buch ist ein leise und nüchtern, fesselnd und schonungslos erzählter Aufschrei. Gegen die auch heute noch längst nicht ausgestorbenen Kommentare der Gattung Sie-wollte-es-doch-auch und Selbst-schuld. Konkret aber auch gegen die linke Intellektuellen-Szene Frankreichs, die den sexuellen Missbrauch Minderjähriger in den 1970er-Jahren regelrecht abfeierte, vordergründig, um alle Körper zu befreien, gegen die sexuelle Spießigkeit. Eine Bewegung, die sich parallel auch in Deutschland wiederfand.

Vor diesem Hintergrund also spielt sich die unglaubliche, aber wahre Geschichte Springoras ab, die heute 48 Jahre alt ist, Lektorin des Pariser Verlags Edition Juillard, den sie ab 2021 leiten wird. Die damals 13-Jährige lebt allein mit ihrer Mutter im Paris der 80er-Jahre, als sie den renommierten Schriftsteller Gabriel Matzneff bei einem Abendessen kennenlernt.

Der früh abwesende, lieblose und herrschsüchtige Vater hat eine große Lücke in ihrem Leben hinterlassen. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung ist enorm, auch das, Männern zu gefallen. Matzneff ist zu dem Zeitpunkt 50 Jahre alt und macht Vanessa M., wie er sie später in seinen Büchern über ihre Beziehung nennen wird, sofort Avancen. Ihre Mutter ist zunächst entsetzt über die aufflammende Beziehung, warnt ihre Tochter vor dem bekannten Päderasten. Doch beeindruckt von der Bekanntheit des Verehrers und auf Drängen der verliebten 14-Jährigen, gibt sie letztlich doch: ihre Einwilligung. Mehrere Jahre lang wird die Kleine Gespielin des großen Autoren, der sie von der Schule abholt, damit sie ihn nachmittags im Hotelzimmer oral befriedigt. Unter anderem.

Dass Matzneff Sex mit Minderjährigen hat, ist in Frankreich damals jedem bekannt, der seine Bücher liest. Unverhohlen verherrlicht er den Missbrauch Jüngerer zum Beispiel in seinem Buch „Les moins de seize ans“ („Unter sechzehn“) im Jahr 1974. Seiner Argumentation, dass eine unerzwungene Liebe mit Teenagern etwas völlig anderes sei als Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch, wird damals mitnichten öffentlich widersprochen. In einem anderen Buch schwärmt er von seinen Erfahrungen eines Sextourismus-Trips, von den „zarten Ärschen“ philippinischer Jungs. Er solidarisierte sich mit dem französisch-polnischen Regisseur Roman

Polanski, der wegen des sexuellen Missbrauchs einer 13-Jährigen verurteilt wurde. Allen expliziten Schriften und Aktionen zum Trotz bleibt Matzneff ein renommierter Autor im französischen Literaturbetrieb. Noch im Jahr 1990, als er bei einer Fernsehsendung von einer kanadischen Autorin für seine Pädophilie scharf angegriffen wird, ergreift das Feuilleton überwiegend Partei für ihn. Und der Verlag, in dem Matzneff seine Notizbücher während der gemeinsamen Beziehung mit Vanessa M. in mehreren Bänden veröffentlicht, eine Feier auf die ungleiche, von ihm literarisch überhöhte vermeintliche Liebes-Beziehung zu der Minderjährigen, verlegt die Bücher unverdrossen weiter – bis zum Erscheinen von „Die Einwilligung“. Denn die Polizei nimmt das Buch zum Anlass, die Verlagsräume und das Haus des mittlerweile hochbetagten Autoren zu untersuchen, auf der Suche nach Beweisen für strafrechtlich nicht bereits verjährte Pädophilie und die Verherrlichung von Verbrechen. Matzneff hingegen stilisiert sich in Interviews selbst als ein Opfer Springoras.

Selbstverständlich war die Beziehung zwischen Matzneff und Springora in Frankreich bereits in den 80er-Jahren gesetzlich verboten. Aber die anonym informierte, mehr als lasch recherchierende Polizei, Nachbarn, Freunde der Familie: Alle sahen darüber hinweg, akzeptierten die vordergründig auf gegenseitiger Einwilligung beruhende Beziehung, deckten den Missbrauch. Dass es in der vermeintlich freigeistigen Künstler-Szene noch lange als schick oder mindestens akzeptabel galt, was schon lange zurecht verboten war, ist einer der schweren Vorwürfe Springoras in dem Buch.

Die Autorin zeichnet den Schriftsteller als Vampir, der ihr Leben ausgesaugt und sie mit seinem literarisch pervertierten Zerrbild von ihr zum zweiten Mal zum Opfer gemacht hat. Zumal er ihren echten Namen verwendet. Lediglich unwesentlich älter stellt er sie dar, aus juristischen Gründen. Irgendwann bemerkt das Mädchen, dass der Autor neben ihr Affären mit anderen Schülerinnen hat. Er tritt mit zunehmender Dominanz auf, untersagt ihr Kontakte zu gleichaltrigen Jungs und fordert sie auf, Briefe zu schreiben, in denen sie ihm ihre Liebe gesteht. Als Schutz für sich selbst, so ahnt sie später, falls die Polizei ihm doch auf die Schliche kommt.

Sie beendet die Beziehung. Matzneff scheint das nicht akzeptieren zu könnten, stellt ihr noch viele Jahre in E-Mails und Briefen nach. Springora versagt in der Schule und im Studium, muss in psychische Behandlung und kann sehr lange nicht mit anderen Männern umgehen, ohne dabei Ekel zu empfinden. Kann Sex ohne äußeren Zwang überhaupt Missbrauch sein? Wo liegt die Grenze? Am Ende findet die durchaus selbstkritische Autorin für sich eine eindeutige Antwort. Ein Erwachsener überblickt sein Handeln, ein nach Orientierung und Anerkennung suchendes Mädchen auf der Schwelle zur Frau nicht. Überall da, wo das Machtgefälle groß ist, ist Sexualität vor allem eins: Ausübung von Macht. Egal, welches Alter und welches Geschlecht der oder die Rangniedrige in diesem Gefüge hat.

Vanessa Springora: „Die Einwilligung“, deutsch von Hanna van Laak, Blessing Verlag, 175 Seiten, 20 Euro, E-Book: 15,99 Euro.

Sarah Brasack

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