Fantastischer Spielzeit-Auftakt in Düsseldorf: Kirill Serebrennikov bringt Vladimir Sorokins „Der Schneesturm“ auf die Bühne.
Düsseldorfer SchauspielhausWie sich August Diehl im Schneesturm verliert

Filipp Avdeev (oben) und August Diehl in „Der Schneesturm“
Copyright: Vahid Amanpour
In einer frühen Geschichte von Lew Tolstoi gerät ein namenloser Protagonist auf einer Schlittenfahrt durchs russische Ödland in einen Schneesturm. Der Kutscher kann den Pfad nicht mehr erkennen, man kehrt um, versucht es erneut, hat einen Unfall, muss scheuende Pferde einfangen, verliert die Orientierung. Der frierende Erzähler träumt vom Kältetod und von den heißen Julisommern auf seinem Landgut. Wetter und Weite lösen die Linearität auf, das Leben hat keine Richtung mehr, sein Sinn ist verweht.
In seinem kurzen Roman „Der Schneesturm“ hebt Vladimir Sorokin Tolstois Skizze in eine traumartige Zukunft, bei ihm ist es der Landarzt Dr. Garin, der im Schlitten fährt. Die Zeit drängt, Garin soll Impfstoffe ins Dorf Langenweiler bringen. Dort ist die bolivianische Seuche ausgebrochen, die Infizierte zu lebenden Toten mutieren lässt. Nur der Brotkutscher Kosma Perkhusha erklärt sich bereit, trotz des Sturms seine Pferde vors Schneemobil zu spannen. Es sind 50 an der Zahl, aber sie sind so winzig wie Spielfiguren, Kosma nennt sie zärtlich seine „Pferdis“.
Tote Riesen mit steif gefrorenen Erektionen
Statt in die Finsternis reist das ungleiche Paar in den Whiteout, in die extreme Helligkeit schneebedeckter Regionen, in denen man nicht mehr zwischen oben und unten, vorne und hinten unterscheiden kann. Arzt und Kutscher begegnen einem grantelnden kleinwüchsigen Müller und seiner ausladend-verführerischen Frau, toten Riesen mit steif gefrorenen Erektionen, nomadischen Dealern mit pyramidenförmigen Drogen und alttestamentarisch brennenden Büschen.
Das Ziel, die hehre Aufgabe, gerät bei diesen Ablenkungen zusehends aus dem Blick. Der trippige Text liest sich, als hätte Sorokin die alte Welt von Puschkin (dessen Schneesturm-Erzählung Tolstoi zum Vorbild diente) und Tschechow in ein postapokalyptisches Videospiel versetzt, in die sich ankündigen Katastrophen des 21. Jahrhunderts: „Krieg und Frieden“ trifft „The Last of Us“. Dieser Schnee ist Fallout.
Der russische Film- und Theaterregisseur Kirill Serebrennikov hat den Roman seines Freundes und Landsmanns Sorokin für die Bühne adaptiert, sein „Schneesturm“ feierte bei den Salzburger Festspielen Uraufführung, mit der deutschen Premiere hat das Düsseldorfer Schauspielhaus jetzt seine Spielzeit eröffnet.
Kirill Serebrennikov und Vladimir Sorokin leben im Berliner Exil
Die beiden Landsmänner gehören zu den meist geachteten Vertretern ihres jeweiligen Fachs, beide waren unter dem Putin-Regime wachsenden Repressalien ausgesetzt – Serebrennikov musste zeitweilig aus dem Hausarrest heraus über Mittelsmänner inszenieren –, beide sind mit Anfang des Ukrainekriegs ins Exil nach Berlin gegangen.
Ursprünglich, erzählt der Regisseur im Programmheft, habe er Sorokins bekanntesten Roman, „Der Tag des Opritschniks“, inszenieren wollen, die 20 Jahre alte Dystopie eines totalitären und tyrannischen Russlands, die sich inzwischen beinahe en détail bewahrheitet hat. Deren Rechte aber waren bereits erworben worden, wahrscheinlich, vermutet Serebrennikov, mit der Absicht, eine Inszenierung zu verhindern.
Stattdessen also der märchenhafte, gelegentlich kitschig existenzialistische „Schneesturm“, der auch die Sehnsucht der Exilanten nach der verlorenen Heimat in sich trägt. Die Notlösung erweist sich als Glücksfall, als eskapistischer Budenzauber, dessen sämtliche Sparten bemühende Weltflucht genau ins Auge derzeitigen Weltensturms führt, hin zu einer dunklen Zukunft, in der Zombies durchs öde Land ziehen. Serebrennikov hat dem Schneegestöber die weiß kostümierte, neunköpfige Gestalt seines singenden, spielenden, tanzenden, strippenden, musizierenden und Live-Videos erstellenden Ensembles gegeben.

Szene aus „Der Schneesturm“ am Düsseldorfer Schauspielhaus
Copyright: Vahid Amanpour
Das treibt mithilfe von Laubbläsern und Windmaschinen erstaunliche Mengen an Kunstschnee über die Bühne, und umwirbelt dabei drei Stunden lang (abzüglich einer Pause) ohne Unterlass das ungleiche Paar auf seiner Schlittenfahrt. Es umschmeichelt auch gekonnt die Sinne des Publikums – man könnte diesen Sturm auch als Genuss-Revue aus Satzgesang und Moritaten, aus Stepp-Nummern und akrobatischen Einlagen ohne jeden Hintersinn über sich hinwegziehen lassen.
Garin und Kosma aber – August Diehls zuerst herrischer, dann zunehmend verwirrter Landarzt und Filipp Avdeevs subalterner, dabei tief mitfühlender Kutscher – sind ein „odd couple“ für die Ewigkeit, als absurde Reisegefährten ziehen sie die Summe aus Phileas Fogg/Passepartout und Estragon/Wladimir. Ihr Schneemobil ist ein Karussell mit Schleich-Pferdchen im Gestänge. Sie tragen durchsichtige Helme, in denen sich Kameras befinden, die ihre vom Fischaugenobjektiv verzerrten Gesichter auf zwei Bullaugen-Leinwände links und rechts des Schlittens übertragen. Wie todesmutige Kosmonauten blicken sie voraus ins Unbekannte, während sie sich doch nur auf der Stelle drehen.
Avdeev ankert das fantastische Geschehen mit seiner kauzigen Menschen- und Tierfreundlichkeit, Diehl unterspielt zunächst als pflichtbewusster Intellektueller, erliegt dann umso spektakulärer den vielen Versuchungen entlang des verschlungenen Pfads. Der Höhepunkt des Abends bietet uncharakteristischerweise nur den einen Schaupunkt, nämlich den Landarzt, der im Drogenrausch seine eigene Hinrichtung in einem mit Speiseöl gefüllten Kessel imaginiert – man denkt an Dostojewskis berühmte Scheinhinrichtung.
Der Regisseur verlässt sich an dieser Stelle ganz zurecht auf die ingenieurshaft präzise Schilderung Sorokins und ihre phänomenale Umsetzung durch August Diehl. Sein stoischer Mediziner gestikuliert, grimassiert, stürzt mit sich überschlagender Stimme seinem vermeintlichen Ende entgegen, man spürt die Panik im Parkett und auch die abgründige Komik, die so ein verzweifelter Existenzkampf auf diejenigen hat, die sich nur als Zuschauer wähnen. Nach der Pause schwärmt der Davongekommene von der Süße des Lebens, von großen Plänen und der Liebe zwischen den Menschen.
Es ist nur die beabsichtigte Nachwirkung der Droge, Dr. Garins High schlägt schon bald wieder in fluchende Verzweiflung um. Kosma bleibt bescheidener: Das Wichtigste im Leben sei einfach, dass die Pferdis gesund sind. Mehr ist nicht zu hoffen.
Nächste Termine: 31.10., 14., 28., 29. 11., Düsseldorfer Schauspielhaus