In seinem Drama „Amrum“ zeigt Star-Regisseur Fatih Akin, wie ideologische Verblendung zu einem generationenübergreifenden Trauma führen kann.
Fatih Akin„An diesem Satz hängt die deutsche Staatsräson, die bedingungslose Verteidigung des Existenzrechts Israels“

Fatih Akin hat einen neuen Film gedreht. „Amrum“ läuft ab Donnerstag, den 09. Oktober im Kino.
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Ein Sommertag in Berlin. Fatih Akin (52), barfuß und in luftiges Leinen gekleidet, empfängt zum Interview auf der Terrasse eines Berliner Fünf-Sterne-Hotels. Der Ort am Rande des Tiergartens ist auf beunruhigende Art passend für ein Gespräch über einen Film, der am Ende des Zweiten Weltkriegs spielt und der den Umgang mit der deutschen Geschichte zum Thema hat: Die monumentale graue Fassade des heutigen Hotels kann nicht verstecken, dass dies ein Nazi-Bau ist, errichtet 1938 als Botschaftsgebäude.
Der Film, über den wir reden, spielt aber nicht in Berlin, sondern an (und in) der Nordsee. Er ist eine Hommage an Akins Mentor, den schwer erkrankten Hamburger Regisseur Hark Bohm (86). „Amrum“ erzählt von Bohms Jugend, und er hätte ursprünglich auch Bohms Film sein sollen. Der Film kommt am 9. Oktober bundesweit ins Kino.
Fatih Akin, was war Ihr erster Eindruck von der Insel Amrum? Was kam zuerst, der Besuch auf der Insel oder die Berichte Ihres Freundes Hark Bohm über seine Jugend dort?
Harks Geschichten kamen zuerst. Und das wiederum kam so: Hark wollte einen anderen Film machen, der auch im Dritten Reich spielen sollte. Ich sollte ihn produzieren. Das war ein Film über Konrad Morgen, ein SS-Richter, wenn man so will, ein „guter Nazi“, der die Korruption stoppen wollte. Der Film sollte 20 Millionen Euro kosten. Ich war nie ein Freund von dem Projekt und die Finanzierung scheiterte schließlich. Hark war niedergeschmettert. Ich habe ihn gefragt: „Warum wolltest du das denn überhaupt drehen?“ – „Weil meine Eltern Nazis waren“, hat er geantwortet, „und weil mein Vater verhaftet wurde vor meinen Augen. Auf Amrum.“

Jasper Billerbeck (l) als Nanning und Matthias Schweighöfer als Onkel Theo in einer Szene des Films 'Amrum'. Der Film kommt am 09.10.2025 in die deutsche Kinos.
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So begannen also seine Berichte von der Insel.
Ja, dann hat er mir nach und nach immer mehr von seiner Kindheit auf Amrum erzählt. Wie man dort überlebte im Hunger der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsmonate. Und ich sagte zu ihm: Hark, du erzählst mir doch einen Film. Ich konnte den Film in seinen Erzählungen fühlen. Ein bisschen von dem Gefühl ist jetzt auch in meinem Film enthalten.
Wie der Junge Nanning, die von Jasper Billerbeck gespielte Hauptfigur des Films, wurde Bohm in Hamburg geboren. Seine Mutter aber stammt von der Insel, daher trägt er einen friesischen Namen. Um den Bomben der Alliierten zu entkommen, floh die Familie im Krieg aus Hamburg nach Amrum. Das Stadtkind mit Inselverwandtschaft gehörte dazu – und doch wieder nicht. Aus diesem Spannungsfeld speist sich Hark Bohms 2024 erschienener Erinnerungsroman „Amrum“. Und natürlich auch der Film.
War Ihr Blick auf Amrum von Anfang an von Hark Bohms Familiengeschichte geprägt?
Ja, zum ersten Mal bin ich 2022 hingereist. Im Mai 2024 haben wir dann gedreht. Ich kannte bisher nur Sylt, Föhr und Amrum kannte ich überhaupt nicht. Auf Sylt war ich auf Klassenreise und dann auf vielen Urlauben. Da kommst du von Hamburg ja relativ einfach hin. Nach Amrum eben nicht, da muss man erst einmal zwei Stunden Fähre fahren, das ist schon eine Tagesreise. Ich war zum ersten Mal mit Hark da, und ich habe mich schon in die Insel verguckt.
Amrum ist die kleinste der drei nordfriesischen Inseln und diejenige, die am weitesten vom Festland entfernt liegt. Auf Sylt übernachten jedes Jahr 750.000 Gäste, auf Föhr knapp 200.000, auf Amrum 120.000. Es gibt dort 2300 Insulaner und eine eigene Art des Friesischen, das Öömrang. Weltweit sprechen es heute nur noch 500 Menschen – und auch Akins Starbesetzung, vor allem Diane Kruger als Bäuerin Tessa und Detlev Buck als Fischer Sam Gangsters, mussten Öömrang lernen.

Jasper Billerbeck als Nanning in einer Szene des Films 'Amrum'.
Copyright: Gordon Timpen/Warner Bros/dpa
Im Film merkt man ja auch, wie stark diese Landschaft selbst zum Protagonisten wird. Haben Sie den Film der Insel abgetrotzt?
Die Insel war sehr kooperativ. Nicht nur die Menschen, die waren es auch, aber die Insel selbst. Wir haben den ganzen Mai gedreht – und es hat nicht einen Tag geregnet. Das gibt’s da eigentlich nicht, dass es mal einen Monat nicht regnet. Dann hatten wir Glück, dass es nicht ganz so windig war und dann hatten wir Glück, dass die Strömung nicht ganz so krass war. Und wir hatten Glück, dass die Vögel um die Jahreszeit dann auch tatsächlich da waren, als wir da waren. Das sind ja keine dressierten Vögel, sondern Zugvögel. Die ziehen dann irgendwie nach Norden oder von Norden nach Süden. Und dann tun sie das nur dann und dann im Jahr. Und das muss dann auch in der Woche gedreht werden. Drehen mit und auf der Insel – das war kein Klacks. Und die Dreharbeiten im Priel, mit der Kamera auf dem Surfbrett, die spüre ich heute noch manchmal. Aber letztlich, die Natur, Flora und Fauna, die waren sehr kooperativ, aber wir waren auch kooperativ.
Und die Menschen?
Die Leute auf der Insel mochten mich, vor allem diejenigen im Hafen, diese Bootstypen. Wissen Sie, woran das lag?
Erzählen Sie es mir.
Wegen einer Sache. Ich wusste, wie diese Leute ticken, und sie haben gemerkt, dass ich es wusste. Und woran lag das? Mein Vater, Gott hab ihn selig, war Fischer. Vom Schwarzen Meer, nicht von der Nordsee, aber Fischer! Es gibt so eine Art, wie Fischer miteinander kommunizieren, also dieses Laute, Freche, Polternde, Captain-Haddock-mäßige. Und die auf der Insel, diese ganzen Kapitäne, die uns da geholfen haben, die haben erkannt, dass ich das kenne; „Sein Vater war Fischer, das ist einer von uns.“ Und damit war alles klar. Das sind zwar Deutsche, keine Türken vom Schwarzen Meer, aber das ist egal. Das ist dasselbe Fabrikat überall auf der Welt: Fischer.
Eines Nachts während der Dreharbeiten ging Fatih Akin an den Strand, legte sich in den Sand, schaute in die Sterne – und dachte an seinen Freund Hark Bohm. „Das ist der Sternenhimmel, den er damals auch gesehen hat, als er nachts raus ist und an den Strand gegangen ist, um Treibholz zu suchen.“ Als er viel später dem Freund und Mentor den fertigen Film vorgeführt hat, kamen Bohm die Tränen.

Klassische Schönheit: Der Leuchtturm von Nebel auf Anmrum.
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Wie ist es, in den Heimatfilm eines anderen einzuwandern und ihn zu machen?
Das ist ja ein roter Faden bei mir. Viele meiner Filme sind ja irgendwie Heimatfilme. Also „Soul Kitchen“, „Kurz und schmerzlos“, „Der goldene Handschuh“ – die setzen sich mit meiner Heimat Hamburg auseinander. Nun geht es um Harks Heimat Amrum und natürlich gibt es einen Bezug zu unserer gemeinsamen Heimat Hamburg: Die Hauptpersonen sind vor dem Feuersturm auf die Insel geflüchtet, am Ende kehren sie nach Hamburg zurück. Was immer das Emotionale mit einem macht, am Ende war das ja eine sehr professionelle, pragmatische Herangehensweise. Das ist das Drehbuch, das hat er geschrieben, darum geht es in der Szene und wie drehe ich das, dass es mir gefällt?
Sie mussten den Film zu Ihrem Film machen – war das schwierig?
Ich habe mich bis kurz vor dem Dreh gefragt, wie muss ich es machen, dass es Hark gefällt? Und erst ganz kurz, bevor wir anfingen, habe ich verstanden, dass das ein Irrtum war. Wenn es jetzt mein Film ist, muss ich es so machen, wie es mir gefallen würde. So habe ich mich der Sache angenähert.
Im Film sagt ein Onkel der Hauptperson zu dem Jungen: „Du bist nicht schuld, aber du hast dennoch damit zu tun“. Er meint die Verbrechen des Nationalsozialismus. In diesem Satz steckt alles drin, was deutsche Identität bis heute ausmacht. Aber wer hat denn heute mit dieser Zeit im Film noch zu tun?
Wir alle.
Alle, die später gekommen sind, die eingewandert sind?
Alle, die gekommen sind, alle, die geblieben sind. Alle, die jetzt hier sind. Eine Zeit lang dachte ich, ich nehme die Szene raus. Aber wenn ich die Szene rausnehme, dann ist der Satz raus. Wenn der Satz draußen ist, habe ich keinen Film, also mussten die Szene und der Satz wieder rein. An diesem Satz hängt so vieles. Nicht zuletzt die deutsche Staatsräson, unter der ich die bedingungslose Verteidigung des Existenzrechts Israels verstehe. Das hören vielleicht viele gerade nicht gerne, aber das gehört dazu.
In den Nachrichten taucht dieser Satz unter der Überschrift „Akin pocht auf deutsche Verantwortung für Israel“ auf. In einer Instagram-Story erklärt der Regisseur, wie er es verstanden haben will: „Ich habe erklärt, aus welcher Schuld und Schande die deutsche Haltung rührt.“ Ebenfalls auf Instagram hebt er hervor: „Ich poche auf die deutsche Anerkennung Palästinas“.
Matthias Schweighöfer spielt Nannings Onkel Theo, der vor den Nazis nach Amerika geflohen ist. Er konnte dort auf ein Netzwerk von Amrumern zählen, die aus wirtschaftlichen Gründen schon länger dort lebten. Jede Familie von den Inseln hat Verwandte in den USA, das gilt bis heute. Nannings Freund Hermann sagt im Film: „Was soll ich in Hamburg, da kenn ich keinen. Da gehe ich lieber nach New York.“ Auch aktuell beschäftigt das Thema Auswanderung Akins Freundeskreis. Er kontert mit einem Satz von Goethe: „Wo wir uns bilden, da ist unser Vaterland.“ Und er fügt an: „Dieses möchte ich nicht den Nazis überlassen.“
Sie haben gesagt: „Viele Freunde und Bekannte reden davon, Deutschland zu verlassen, weil sie in einer Art Disneyland-Deutschland leben.“ Was meinen Sie damit?
Das Disneyland-Deutschland bezieht sich darauf, dass recht viele Bekannte von den Krisen überfordert sind, die es zurzeit gibt. Die sagen dann: Ich hau ab, ich hab keinen Bock mehr, ich steig aus. Ich verlasse das jetzt hier, dieses Deutschland. Sie leben in der Illusion, dass es hier früher besser und sicherer war und das unwiederbringlich verloren wäre – der Wohlstand, die politische Sicherheit, das korrekte Bullerbü. Also haut man ab. Aber das ist doch unser Land! Gibt man das auf oder verteidigt man das? Was machen wir, wenn Putin uns überfallen sollte? Ich rede da jetzt nicht von Wehrpflicht. Aber schauen wir mal in die Ukraine: Die Leute verteidigen ihre Kindergärten. Sie verteidigen ihre Krankenhäuser, sie verteidigen ihre Erinnerungen, ihr Leben. Sie geben nicht auf.
Ich habe „Amrum“ ja während des Ukraine-Kriegs gedreht, und während hier in Deutschland die AfD immer stärker wurde. Da kam einiges zusammen, das hat mir vieles vor Augen geführt. Ich habe mich gefragt: Wenn dieses Land von außen oder von innen angegriffen wird, bin ich dann einer, der einfach die Koffer packt, das Bankkonto auflöst und abhaut? Oder würde ich es verteidigen, würde zumindest hierbleiben? Und ich habe für mich nach dem Dreh von „Amrum“ entschieden, dass ich dann hierbleibe und dieses Land nicht den anderen überlasse.