Fernsehen versus StreamingWie der neue WDR-Fernsehfilmchef die Jugend locken will

Lesezeit 8 Minuten
Alexander Bickel, der neue Fernsehfilmchef des WDR 

Alexander Bickel, der neue Fernsehfilmchef des WDR 

  • Alexander Bickel tritt im WDR die Nachfolge Gebhard Henkes an, der nach Belästigungsvorwürfen gehen musste.
  • Im Interview erzählt Bickel, was er anders machen will, intern und beim Programm des WDR.
  • Wenn junge Leute wieder Fernsehen gucken, könnten auch die Öffentlich-Rechtlichen davon profitieren.

Herr Bickel, warum sind Sie den Schritt vom ZDF zurück zum WDR gegangen?

Alexander Bickel: Das waren keine Gründe gegen das ZDF, sondern dezidiert Gründe für den WDR. Und dabei hat Köln eine große Rolle gespielt. Ich habe hier studiert und mag diese Stadt sehr: Die Lebendigkeit und Vielfalt, die ich von keiner anderen deutschen Großstadt so kenne. Dieses Unaufgeräumte, aber sehr Zugängliche, Freundliche, Direkte. Das habe ich vermisst. Und die Gelegenheit, im WDR ein so breites Spektrum an Erzählfernsehen und Kino zu verantworten, hat mich sehr gereizt.

Was macht Köln aus professioneller Sicht für Sie aus?

Köln ist ein starker Medienstandort. Hier gibt es viele kleinere und größere Produktionsunternehmen mit einem sehr spannenden Spektrum, tolle Kreative und ein Umfeld an Top-Dienstleistern. Es ist ein Biotop, in dem wir als WDR gut aufgehoben sind und die Chance haben, davon zu profitieren. Wir haben sicher auch eine Verantwortung, damit sinnvoll umzugehen und das Unsere zu tun, um den Standort wachsen und gedeihen zu lassen. Und mir ist wichtig zu schauen, wie wir auch im Programm nicht nur Köln, sondern NRW insgesamt, diese 18-Millionen Menschen starke Homebase, abbilden. „Aus Köln für alle“ ist da mein Motto.

Sie sind die Nachfolge von Gebhard Henke angetreten, von dem sich der WDR nach Belästigungsvorwürfen getrennt hatte. Wie hat diese Vorgeschichte Ihr Ankommen beeinflusst?

Durch die lange Interimszeit, in der die Redaktion kommissarisch geleitet wurde, hat sie auch ein neues Selbstbewusstsein gewonnen. Sie hat vieles von dem, was ich ja gar nicht mitbekommen habe, aufarbeiten können, so dass mein Start hier mit einer Offenheit und Neugier und dem allgemeinen Wunsch, nach vorne zu schauen, begleitet wurde.

Welche Lehren haben Sie aus den Vorgängen gezogen?

Mir ist sehr wichtig, wie wir Führung organisieren. Dass wir offen miteinander kommunizieren. Die Tür ist offen. Es gibt eine Sprechstunde, Feedback- und Mitarbeitergespräche. Dinge, die mit dem Gutachten von Frau Wulf-Mathies, dem Maßnahmenplan für einen Kulturwandel oder der neuen erweiterten Dienstvereinbarung noch einmal ein ganz anderes Gewicht bekommen. Da hat sich also schon, bevor ich kam, in den Köpfen viel getan. Ich will das Signal geben: Mir ist ein starkes Team wichtig, das darf nicht in eine Machtkonzentrationslogik kommen. Nicht weil das per se schlecht ist, sondern weil es anders einfach besser ist.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wir wollen den Produzenten und Kreativen, um die wir kämpfen müssen, vermitteln, dass wir in der Redaktion sehr gute Leute haben, die eine Haltung haben und für etwas stehen. Wir verteilen die Positionen, die mit meiner Rolle verbunden sind, auf mehrere Menschen. Wir treffen Entscheidungen in einem erweiterten Vier-Augen-Prinzip. Es geht um Achtsamkeit, Transparenz, Offenheit.

Wie sind Sie die ersten Monate in Ihrem neuen Job angegangen?

Wir haben im Kollegium besprochen, dass wir erst mal auf die Frage schauen, wie wir zusammen arbeiten. Anschließend haben wir dann einen Workshop zum Programm gemacht. Mit Fokus auf den FilmMittwoch im Ersten.

Mit welchen Ergebnissen?

Im Kern mit dem Ergebnis, dass wir selbstbewusst sagen: Der Mittwoch ist Fernsehfilm. Aber Fernsehfilm ist etwas anderes als vor 20 Jahren. Es wird auf anderen Geräten, in anderen Nutzungssituationen und zeitsouverän konsumiert. Wir wollen uns künftig immer fragen, wie wir das in einer Welt erzählen, in der die Leute nicht mehr selbstverständlich vor dem Fernseher sitzen um 20.15 Uhr.

Was muss man anders machen?

Die Leute treffen die bewusste Entscheidung, sich 90 Minuten Zeit zu nehmen. Sie verbinden damit eine bestimmte Erwartung. Die ist vielleicht anders, als wenn sie – wie früher – gemütlich auf dem Sofa sitzen und erwartungsfroh warten würden, was ihnen angeboten wird. Für uns heißt das, bestimmte Muster und Erzählformen aufzubrechen und diesen Menschen etwas zu bieten, was sie vielleicht im Moment bei Streamingdiensten finden und bei uns zuletzt gelegentlich weniger gefunden haben.

Was kann das konkret sein?

Geschichten, die eine bestimmte Visualität haben, die sich bestimmten Genres und Erzählweisen zuwenden, denen wir uns am Mittwoch bisher seltener zugewandt haben. Der Mittwoch steht ja für große, erfolgreiche Themenfilme. Gleichzeitig gibt es vielleicht gelegentlich die Vermutung beim Zuschauer, es könnte anstrengend sein, nicht so richtig Spaß machen. Anspruch und Spaß zu verbinden, ist ein Ziel. Überraschend erzählen, trotzdem lebensnah und glaubwürdig und Konflikte, die echt sind, zu zeigen, das ist ein weiteres. Wir wollen nicht den halben Schritt gehen, sondern den ganzen. Den halben muss man im Linearen manchmal gehen, weil man zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Menschen vor den Fernseher kriegen muss. Im Nonlinearen können wir versuchen, mit unserem Produkt über eine längere Strecke viele zu überzeugen.

Ist der Fernsehfilm mit seinen engen formalen Vorgaben denn überhaupt noch zeitgemäß?

Ich bin überzeugt davon. Schauen Sie, was bei Netflix passiert: Nach den Serien kommen da die Filme. Man muss es aber gar nicht davon ableiten. Wir können selbstbewusst sein und sagen, wir haben in Deutschland diese Erzählform, die wir seit vielen Jahren sehr ausgebildet haben. Wir können in 90 Minuten eine Geschichte erzählen, die eine hohe dramatische Amplitude hat und sehr emotional ist. Das müssen wir nur sehr konsequent verfolgen. Vielleicht auch mit neuen Genres. Warum nicht mal eine Horrorkomödie?

Was kann man den Zuschauern zumuten an Experimenten?

Vielleicht geht es darum, nicht allein vom jeweiligen Projekt her zu schauen. Denn am Ende ist jedes künstlerische Projekt ein Risiko, und im fiktionalen Fernsehen geht es immer um viel Geld. Da kommt man mit der Frage „Wie viel Experiment geht?“ dann gar nicht von der Stelle. Dasselbe passiert, wenn man sagt, man will möglichst wenig Experiment und einen Sendeplatz mit Verlässlichkeit bespielen. Dann sucht man die Erfolgsmuster, wird formelhaft und beginnt, die Zuschauer zu verlieren. Wir wollen das vom Gesamten her betrachten. Es wird eine Mischkalkulation geben. Wir brauchen Filme, die sich eher aufs Lineare konzentrieren und eine breitere Ansprache haben. Es muss aber auch Filme geben, die wir konsequent in eine andere Richtung denken. Wir müssen Schritt für Schritt in die Zukunft gehen, in der wir dann nur mehr vom Nonlinearen her denken.

Und irgendwann zeigen Sie dann vieles nur noch im Nonlinearen?

Das dürfen wir ja seit diesem Jahr. Und das ist eine große Chance, die wir nutzen müssen. Vom nächsten Jahr an werden wir jedes Jahr mehr Mittel zur Seite legen in diese Richtung. Das Geld wird ja nicht für diesen Zweck erfunden, wir müssen das aus unserem Etat erwirtschaften. Aber wir können das Nonlineare nicht immer nur nebenher denken.

Sie haben viel über Produktionen für das Erste gesprochen. Gilt es nicht auch, das Profil des WDR-Fernsehens zu schärfen?

Beide Aufgaben sind wichtig. Wir machen etwa einen Film über den Braunkohletagebau zwischen Köln und Aachen. Es geht um die Bewohner eines Dorfes, das bald nicht mehr da sein wird. Wir müssen und wollen das so erzählen, dass es hier verortet ist. Und ich hoffe, dass es im dritten Programm funktioniert, weil es diese Absenderkennung hat. Aber es erzählt das Thema Strukturwandel so allgemein, dass es auch in Bayern oder in Thüringen relevant ist.

Es heißt, wir leben im Goldenen Zeitalter der Serie, aber die Zuschauer haben nur ein begrenztes Zeitbudget. Macht Ihnen die Konkurrenz von Netflix, Amazon oder Apple Angst?

Wenn Sie mich fragen, leben wir nicht im „Goldenen Zeitalter“ der Serie, sondern im „Goldenen Zeitalter“ des Erzählfernsehens. Die Serie ist ja auch keine Erfindung der Streamingdienste. Und natürlich müssen wir Serien machen, wir sind der WDR, wir haben „Berlin Alexanderplatz“ und „Im Angesicht des Verbrechens“ gemacht, das sind Meilensteine der Serie. Als ich in Köln studierte, habe ich nicht ferngesehen. Heute gucken junge Leute fern, weil sie Interesse an Serien haben. Mit diesem Interesse an anspruchsvollen Geschichten, die komplexe Figuren erzählen und einen in besondere, vielleicht auch überraschende Welten eintauchen lassen, kann man auch Menschen erreichen, die sich „Um Himmels Willen“ eher nicht anschauen. Das ist die große Chance.

Aber Pay-TV- und Streaming-Anbieter haben eine andere, spitzere Zielgruppe. Der WDR ist öffentlich-rechtlich, muss viele erreichen. Ist das ein Spagat, der nicht zu schaffen ist?

Das ist ein Spagat, aber er ist eher zu schaffen als der alte, mit dem wir bisher zu tun hatten: Nämlich die älteren Zuschauer zu behalten und die Jungen nicht zu verlieren. Das ist ein unmöglicher Spagat. Das Nonlineare ist ein Paradigmenwechsel, der viele Schwierigkeiten aufwirft, aber es ist auch eine Riesenchance. Da können wir gezielt für bestimmte Zielgruppen programmieren und nach einer anderen Logik Publikum generieren. Das geht nicht von heute auf morgen, das dauert Jahre – und die finanzielle Steuerung dauert auch. Wir müssen mit neuen Programmen den Beweis antreten, dass wir genauso sexy wie die Streaming-Anbieter sind. Das ist die Hausaufgabe. Aber wenn uns das gelingt, stehen uns rosige Zeiten bevor.

Zur Person

Alexander Bickel (50) war nach dem Studium freier Lektor für den WDR-Programmbereich Fernsehfilm. Dann ging er zum ZDF und war dort zuletzt stellvertretender Leiter der Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie II. Seit Mai 2019 leitet er beim WDR den Programmbereich Fernsehfilm, Kino und Serie. (amb)

KStA abonnieren