Filmfestival CannesEine lohnende Wundertüte

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„The Triangle of Sadness“ 

Cannes –  Der eine, wirklich geschmacklose Augenblick dieses Filmfestivals fand nicht im Kino statt sondern über den Köpfen der Massen an der Croisette. Das Publikum unfreiwillig zu Gästen einer militärischen Flugschau zu machen, wäre schon zu anderen Zeiten zumindest eine gefährliche Übergriffigkeit. Doch gerade jetzt eine Staffel von acht Kampfflugzeugen, wie sie die Ukraine flehend zur Selbstverteidigung fordert, bei Kunststücken zu präsentieren?

Das Spektakel, das bereits am Mittwochabend zu Ehren von Tom Cruise die Europapremiere von „Top Gun Maverick“ begleitete, behält einen üblen Nachgeschmack. Gerade weil die Reaktion auf die Gratisflugschau in Frankreich überwiegend positiv ausfiel. Das Geräusch der Explosionen, mit dem sich die harmlosen Rauchbomben in den Farben der Trikolore entzündeten, unterschied sich jedenfalls nicht vom authentischen Bombardement im beklemmenden Dokumentarfilm „Mariupolis 2“. Das französische Nachrichtenmagazin „Le Point“ immerhin titelte treffend: „Promotion Impossible“.

Komischer als der bittere Titel verspricht

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"Triangle of Sadness". 

Die gesellschaftliche Etikette in Zeiten eines enthemmten Kapitalismus ist schon seit Jahren das Thema des Schweden Ruben Östlund. Auf seinen Cannes-Gewinner „The Square“ von 2017 lässt er im Wettbewerb nun folgen, was sein populärster Film werden könnte.

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Die Gesellschaftssatire „The Triangle of Sadness“ ist weit komischer als der bittere Titel verspricht. Das erste Kapitel des Triptychons führt ein junges Paar ein, das gerade lernt, seine körperliche Attraktivität als Kapital zu begreifen: Sie als Influencerin, er als Model. Von letzterem werden in einer kuriosen Backstage-Choreographie alternierend nur zwei Gesichtsausdrücke erwartet: Fröhliches Lächeln für billige H-&-M-Produkte - und arrogante Übellaunigkeit für die Nobelmarken.

Eine fast rührende Debatte über die Frage, ob traditionelle Geschlechterrollen beim Bezahlen der Restaurantrechnung eine feministische Korrektheit beanspruchen dürfen, ist nur die leise Ouvertüre. Der zweite Teil führt beide auf eine Luxuskreuzfahrt, mit der man der jungen Frau ihre freundliche Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken bezahlt – und geradewegs ins Herz des Klassenkampfs.

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Der von Woody Harrelson gespielte Kapitän, ein marxistisch eingestellter Trunkenbold, hat das Captain’s Dinner für die Superreichen spitzbübisch auf den Abend eines angekündigten Seesturms gelegt. Was folgt, ist die spektakulärste Brechorgie der Kinogeschichte seit Marco Ferreris Bourgeoisie-kritischem Klassiker „Das große Fressen“.

Doch der Höhepunkt ist noch lange nicht das Ende: Der finale Akt schüttelt als Robinsonade die sozialen Hierarchien noch einmal so gründlich durcheinander wie ein schlecht gemachter Martini seine Zutaten. Anders als sein geradezu intellektualistischer Vorgänger „The Square“ über die Doppelmoral des Kunstbetriebs ist dies ein grelles Stück Agitprop mit breitem Pinsel – aber hundert wohl platzierten Pointen.

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"R.M.N."

Die wie stets in Cannes wohlbedachte Wettbewerbsdramaturgie kombinierte Östlunds Film mit einem zweiten überlangen, gesellschaftskritischen Autorenfilm: Der Rumäne Cristian Mungiu widmet sich in der zentralen Geschichte von „R.M.N.“ dem Rassismus in Transsylvanien. In dieser seit Jahrhunderten von mehreren Völkern bewohnten Region formiert sich ein fackeltragender Dorf-Mob gegen Arbeitsmigranten aus Sri Lanka.

Auch die wenig sympathische Hauptfigur, selbst ein aus Deutschland heimgekehrter Arbeitsmigrant, tut sich Anfangs mit den neuen Nachbarn schwer. Wäre seine Geliebte nicht Leiterin der Brotfabrik, die sie beschäftigt, könnte er wohl ebenso gut zu den Maskierten zählen, die einen Brandsatz auf ihre Unterkunft werfen.

Meister der überraschenden Subplots

Doch die Doppelmoral einer multiethnischen Gemeinschaft ist nur eine unter etlichen Lesarten dieser Geschichte – schließlich gilt Mungiu seit seinem unvergessenen Cannes-Gewinner von 2007, „Vier Monte, drei Wochen und zwei Tage“, als Meister überraschend angelegter Subplots. Hier sollen vom Offensichtlichen vor allem zwei Motive weglocken: Das Mysterium des aus unbekannten Gründen traumatisierten Kindes des Protagonisten sowie dessen eigene, irreale Angst vor einer angeblichen Bärenplage in den Wäldern.

Noch immer bewundert man Mungius Sinn für Dialoge und Personenregie. Doch statt den Blick auf Rassismusprobleme in der EU zu vertiefen, wird die Sache zunehmend diffus: Eine kollektive, indifferente Angst vor dem Unbekannten wird hier lediglich in einen volksmythologischen Holzrahmen gezwängt.

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"Three Thousand Years of Longing"

Wie liebevoll und spielerisch man auch mit Mythen umgehen kann, belehrt uns abseits des Wettbewerbs der australische Altmeister George Miller. Während Genrefans noch auf sein neues „Mad-Max“-Abenteuer warten, meldet er sich in „Three Thousand Years of Longing“ als Regisseur von unschuldiger Fantasy wie „Ein Schweinchen namens Babe“ zu Wort.

Tilda Swinton spielt in dieser weltflüchtigen Romanze eine Literaturwissenschaftlerin, die in einem Istanbuler Trödelladen findet, was exotistische Träumer dort seit Generationen vergeblich suchen: Ein altes Glasgefäß mit Geist darin.

Idris Elba spielt ihn als zurückgekehrten Dschinn aus dem „Dieb von Bagdad“. Der deutsche Titel der literarischen Vorlage der britischen Autorin A. S. Byatt, „Der verliebte Dschinn“, verrät schon fast zu viel. Verdenken kann man dem weisen Helfer seine Begeisterung für Tilda Swintons Gelehrtenfigur kaum – zumal diese, anders als Sabus „Dieb von Bagdad“ im Filmklassiker von 1940, die Gunst eines Flaschengeistes auch nicht an eine schnöde Pfanne Bratwürstchen verschwendet.

In lyrischen Episoden erzählt er von seinen früheren Liebschaften – und rührt damit nicht nur seine literaturaffine Finderin zu Tränen. So wünscht man sich die Wundertüten eines großen Festivals: wie Flaschen mit gutem Geist darin.

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