Geburtstag eines Musik-GeniesLudwig van Beethoven wird 250 Jahre alt

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Ludwig van Beethoven wird in dieser Woche 250 Jahre alt.

Köln – Kennen Sie Beethovens letzte Komposition? Wahrscheinlich nicht, denn zumindest auf Tonträger war sie bislang nicht zu hören. Wie bitte, das nachkomponierte Finale zum Streichquartett opus 130 firmiert doch allgemein als – nun wirklich sehr bekanntes – opus ultimum. Das mag sein, aber das Etikett ist falsch – worüber die neue Gesamtaufnahme des Beethovenschen Oeuvre der Universal-Labels Deutsche Grammophon und Decca belehrt.

Und dies sogar in Gestalt einer zweifachen Ausführung: Beethovens „letzter musikalischer Gedanke“ ist ein im November 1826 entstandener, indes verloren gegangener erster Satz (C-Dur) zu einem unvollendeten Streichquintett, den der Wiener Verleger Anton Diabelli als Klaviersatz arrangierte (WoO 62). Beide Versionen – die hier von Daniel Hope und Konsorten gespielte Quintettfassung in Rekonstruktion – sind bei Universal in der drei CDs umfassenden Abteilung „Rarities“ zu hören.

So oder so handelt es sich um einen schönen, elegisch-gesanglichen, innigen Satz, der den Hörer wieder einmal über Adornos Aufsatz zum Spätstil Beethovens und seine erneute Gelassenheit im Verhältnis zur Konvention nachdenken lässt. Was die neue, aus Anlass des (wohl an diesem Mittwoch zu begehenden) 250. Geburtstags erstellte Edition anbelangt, so zeigt das Beispiel, dass man sich nicht hat lumpen lassen und es mit dem Rubrum „Gesamtaufnahme“ bitter ernst meint.

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Insgesamt 123 Tonträger

Mit 123 Tonträgern (118 CDs, drei Blu-ray Audios und zwei DVDs) geht man über die vormalige „Complete Beethoven Edition“ von 1997 weit hinaus, die neue Ausgabe ist noch kompletter als komplett. In der Tat: Wer der Auffassung war, der Werkkatalog erschöpfe sich in den Kompositionen mit und ohne Opuszahl (WoO), sieht sich hier eines besseren belehrt: Oft erscheint hinter dem jeweiligen Werk die Angabe „Hess xxx“ – das verweist auf den Schweizer Musikwissenschaftler Willy Hess, der fragmentarische und nicht veröffentlichte Opera katalogisiert hatte.

Oder auch „Biamonti“ – Giovanni Biamonti hatte 1968 einen chronologischen Werkkatalog veröffentlicht, der gnadenlos penibel auch noch notenähnliches Gekritzel auf einem Butterbrotpapier geltend macht. Die Berücksichtigung dieser Verzeichnis führte zu zahlreichen Erstaufnahmen – wozu etwa Beethovens Fugen-Übungen aus dem 1794er Unterricht bei dem Wiener Kontrapunkt-Papst Albrechtsberger gehören. Sie zeigen übrigens einen gelehrigen und hoch versierten Polyphoniker, der seine Lektion weniger bei Albrechtsberger als vielmehr beim alten Bach gelernt hat.

Neuer Zündstoff

Unabdingbar, dass (wie auch in beiden anderen hier vorgestellten „Gesamtaufnahmen“) in der Abteilung „Music for the Stage“ nicht nur „Fidelio“ erscheint, sondern – in einer Interpretation von John Eliot Gardiner – auch dessen Frühform, die Oper „Leonore“. Die Frage, ob im Gegensatz zur Aufführungstradition der „Leonore“ ob ihrer stärkeren Geschlossenheit und dramaturgischen Stringenz nicht der Vorrang gebührt – sie erhält hier neuen Zündstoff.

Darüber hinaus enthält die Edition „Doubtful Works“. In dieser Abteilung spielt etwa Rudolf Buchbinder die Variationen über „Ich hab ein kleines Hüttchen nur“. Und zu hören sind auch die Sonatinen in G- und F-Dur, um deren Authentizität es schlecht bestellt ist, ohne die freilich der elementare Klavierunterricht nicht auskommt. Da werden beim Anhören Erinnerungen wach!

Intensive wissenschaftliche Fundierung

Keine Frage: So ein Projekt verwirklicht sich nicht von selbst, da bedurfte es einer intensiven wissenschaftlichen Fundierung und Begleitung, die in diesem Fall das Bonner Beethovenhaus lieferte. Und ist auch das umfängliche, text-, bilder- und tonreiche Infomaterial der Box betont populär gehalten – die forscherliche Anstrengung im Hintergrund ist allemal wahrnehmbar.

Der Umfang der Edition erklärt sich freilich auch aus zahlreichen Doppel- und Dreifachinterpretationen. Die Sinfonien mit Karajan, Abbado und Chailly, aber eben auch mit Gardiner, dazu ein „Wiener Zyklus“ mit den dortigen Philharmonikern unter Dirigenten von Böhm bis und Bernstein bis Nelsons – und in der Sektion „Classic Performances“ Altertümer mit Erich Kleiber, Busch und Klemperer – solchermaßen wird Interpretationsgeschichte gleich mitgeliefert.

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Ludwig van Beethoven

Vielseitig geht es auch bei der Klaviermusik zu: Brendel, Gilels, Arrau und Pollini sind mit dabei, aber eben auch der Hammerklavier-Experten Ronald Brautigam. Klar, seinen diesbezüglichen Marktvorteil brutal ausnützend, hat Universal tief in die eigenen Archive gegriffen und serviert die Crème dela Crème vergangenen und gegenwärtigen Interpretentums. Das ist in dieser Form kaum zu toppen.

Ganz ohne blinde Flecken geht es freilich nicht ab: Weder Beethoven noch dem ganzen „Complete“ Projekt tut man einen Gefallen, wenn man zum Beispiel für die Präsentation einiger kleinerer Werke für Solostimmen und Orchester auf eine DDR-Produktion von 1973 (!) zurückgreift. Wie dort gesungen und gespielt wird, das ist im Licht gegenwärtiger Standards kaum mehr satisfaktionsfähig. Auf solche historische Vergewisserung kann man nun wirklich verzichten.

Warner Classics und Naxos mit weiteren Unternehmungen

Universals Beethoven ist, wie gesagt, nicht die einzige Integrale des Jubeljahres. Warner Classics („The Complete Works“) und Naxos („Complete Edition“) warten mit Unternehmungen selbigen Anspruchs auf. Das erstaunt auf Anhieb, denn mit 80 (Warner) und 90 CDs (Naxos) liegt das jeweilige Volumen beträchtlich unter dem des Konkurrenz-Projekts – was ja kaum daran liegt, dass man im Fall der schlankeren Boxen schneller spielt.

Ein Blick in das Register der Aufnahmen zeigt die Gründe für den Unterschied: Bei Warner gibt es weder den „letzten musikalischen Gedanken“ noch die Fugenübungen, es gibt auch keine Fragmente und zweifelhaften Werke. Und keine Mehrfacheinspielungen: Die Sinfonien werden durch das Chamber Orchestra of Europe unter Harnoncourt abgedeckt, die Klavierkonzerte durch András Schiff und die Staatskapelle Dresden unter Haitink, die Klaviersonaten durch Stephen Kovacevich, die Streichquartette durch das Artemis-Quartett.

Archiv-Aufnahmen aus den 60ern

Die Auswahlentscheidung fällt somit dezidiert zugunsten eines modernen Instrumentariums aus, die interpretationshistorisch interessante Spannung zwischen unterschiedlichen aufführungspraktischen Modi, die die Universal-Edition aufarbeitet, fällt unter den Tisch.

Was die Archiv-Aufnahmen anbelangt, so ging man teilweise bis in die 60er Jahre zurück, gelegentlich (bei den Konzertarien, aber auch im Fall des Bonner Klavierkonzerts WoO 4) ergeben sich sogar Überschneidungen mit der Universal-Box. Auf der anderen Seite – bei den kleineren Klavier- und Vokalwerken – waren Neuaufnahmen unausweichlich. Die Kanons und „musikalischen Scherze“ präsentiert hier das accentus-Ensemble.

Fake von Schindler

Das begeht übrigens einen Vollständigkeits-Fehler, der auf Uninformiertheit schließen lässt: Der berühmte „Ta-ta-ta“-Kanon auf den Metronom-Erfinder Mälzel stammt nachweislich nicht von Beethoven, sondern ist ein Fake seines Adlaten Schindler. Die beiden anderen Totalen verzichten aus gutem Grund auf das Stück.

Auch die Warner-Box bewegt sich auf dem Höhenkamm der Beethoven-Deutungen, aber insgesamt fährt man hier doch, bildlich gesprochen, auf einem schlecht gefederten Leiterwagen anstelle der weichgepolsterten Universal-Karosse durch die musikalische Landschaft. Karg ist zumal das deutend-einbettende Umfeld: Nichts da mit Bonus-DVDs, und ein Booklet von 114 Seiten (dreisprachig!) liefert auch nicht gerade einen Info-Overkill.

Warner-Box ist deutlich günstiger

Die Gerechtigkeit gebietet indes die Feststellung, dass Warner für seine Box mit 82 Euro fast nur ein Drittel der Universal-Edition (230 Euro) verlangt. Und damit sogar noch die „Complete Edition“ des notorischen Billig-Labels Naxos (85 Euro) unterbietet. Auch „Naxos“ nimmt es tierisch ernst mit „complete“ – und präsentiert nicht weniger als 20 „Weltersteinspielungen“ (die entsprechenden Stücke fehlen tatsächlich in den anderen Gesamteditionen).

Das hört sich indes toller an, als es ist – es geht hier ja nicht um Sinfonien und Konzerte, sondern unter anderem um kurze Klavierstücke, ein Satz für Klaviertrio und Lieder, oft genug in Gestalt rekonstruierter Fragmente. Da ist man, wie es aussieht, tatsächlich an Hecken und Zäune gegangen.

Beethovens „letzter musikalischer Gedanke“ darf sich verströmen

Aber immerhin! Irritierender, dass einiges von dem fehlt, womit die anderen Totalen aufwarten. Beethovens „letzter musikalischer Gedanke“ darf sich verströmen, nicht aufgenommen aber sind auch hier etwa die Albrechtsberger-Fugen. Und wie bei Warner ist der Kontext spärlich, beschränkt sich auf das magere Booklet in englischer Sprache (mehr Infos gibt es allerdings im Internet).

Eine Schwäche der Naxos-Box gegenüber den beiden anderen Editionen ist die mangelnde Prominenz vieler Interpreten. Sicher sind große Namen nicht alles – abgesehen davon, dass sie auch hier hier nicht durchweg fehlen: die Dirigenten Blomstedt, Segerstam und Skrowacewski, die Pianisten Jandó, Scherbakow und Vladar, das Fine Arts und das Kodály Quartet. Mit Ida Bieler, Maria Kliegel und Nina Tichman gibt es übrigens auch Exzellenz von der Kölner Musikhochschule zu hören.

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Und immerhin tritt auch die Dresdner Staatskapelle auf – welche dann aber auch schon die gewichtigste Formation ist. Gerade im orchestralen Bereich gibt es etliche internationale No Names aus Osteuropa wie die Nikolaus Esterházy Sinfonia (der immerhin die komplette Sinfonik anvertraut wurde), die Cappella Istropolitana und das Nashville Symphony. Und da besagt die allgemeine Bekanntheit oder Nicht-Bekanntheit dann etwas: Diese Ensembles spielen gar nicht mal in einem ordinären Sinn „schlecht“, können aber keinesfalls mithalten mit Konkurrenten wie den Wiener oder Berliner Philharmonikern.

Nun mag man einwenden, dass solche Qualitätsunterschiede eh nur etwas für den verwöhnten Expertengaumen sind. Da mag sogar etwas dran sein – Naxos-Gründer Klaus Heymann sprach einst angesichts der hochgerüstet-ausgetüftelten Aufnahmen und Aufnahmetechniken der Edel-Labels verachtungsvoll von „fancy editing“. Und wenn ein Vergleich von Universal- und Naxos-Einspielungen eines lehrt, dann ist es dieses: Beethoven überwältigt auch dann noch, wenn die Cappella Istropolitana ihn spielt.

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