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Grandiose Premiere am Schauspiel KölnWer hat den Mut zu springen?

Lesezeit 4 Minuten
COLLATERAL DAMAGE
von Yael Ronen
Regie: Yael Ronen
 
Regie: Yael Ronen
Bühne: Wolfgang Menardi
Kostüme: Amit Epstein
Musik: Yaniv Fridel & Ofer Shabi
Sounddesign: Oliver Bersin & Christoph Priebe
Video: Stefano Di Buduo
Licht: Michael Gööck
Dramaturgie: Udi Aloni, Nina Rühmeier
 
Foto: Ivan Kravtsov

„Collateral Damage“ am Schauspiel Köln

Yael Ronen beleuchtet am Schauspiel Köln klug und unterhaltsam die Rolle der Kunst im Angesicht der Katastrophe.

Mit Leichenbittermiene tritt Yuri Englert vor den noch geschlossenen Vorhang. „Sie haben sicherlich alle die erschütternden Nachrichten gehört“, adressiert er das Publikum im Depot 1. Angesichts der Situation könne man die Handys ausnahmsweise anlassen, falls man kurz die Nachrichten checken wolle. Überhaupt, seufzt Englert, stelle sich die Frage, ob es Sinn mache, an so einem schrecklichen Abend einen Vortrag über Kunst zu halten oder zu hören. Sanfte Panik kriecht durchs Parkett. Fast möchte man selbst aufs Handydisplay schielen.

Aber Englert will nur spielen, Edi nämlich, den ältesten Sohn eines reichen Reeders. Vom Vater und dessen Schifffahrtsunternehmen hat er sich losgesagt, nachdem dieser bei illegalen Waffengeschäften erwischt und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Als Professor für Kunstgeschichte jagt Edi seinem eigenen weißen Wal hinterher: dem späten Goya „Schiffbruch mit Zuschauer“, der in den Wirren der Russischen Revolution verschollen und von dem nur eine Katalogbeschreibung überliefert ist.

Die letzte große Premiere von Rafael Sanchez' Interimsintendanz

Das sagenumwobene Gemälde hat sich die israelische Autorin und Regisseurin Yael Ronen für ihr neues Stück „Collateral Damage“ ausgedacht – als Chimäre aus Francisco de Goyas „Der Schiffbruch“ und Hans Blumenbergs Betrachtung „Schiffbruch mit Zuschauer“. Das hochformatige Bild zeigt hilflos auf Felsriffen Gestrandete, die einen tobenden Himmel um Gnade anflehen. Der Essay des deutschen Philosophen untersucht die Havarie als Daseinsmetapher. Eventuell, sinniert Blumenberg darin, hat es nie ein erreichbares Festland gegeben und unsere Vorfahren haben schon auf hoher See ein Floß gezimmert, „bis es heute ein so komfortables Schiff geworden ist, dass wir gar nicht mehr den Mut haben, ins Wasser zu springen und noch einmal von vorn anzufangen“.

Es ist die letzte große Premiere von Rafael Sanchez' Interimsintendanz am Schauspiel Köln. Und vielleicht die beste. Der Vorhang öffnet sich, gibt den Blick frei auf einen Schwimmbad-Sprungturm, der auch als Schiffsbrücke doubeln könnte. Der eindrucksvolle Turm von Bühnenbildner Wolfgang Menardi dreht sich fast ununterbrochen um die eigene Achse, umrahmt von zwei konkaven Leinwänden, die unruhige See in der Draufsicht zeigen, Sinnbild für eine volatile Welt im Strudel erschütternder Nachrichten. Die weiß gestrichene Konstruktion soll des alten Reeders Haus am Meer darstellen, hier liegt er im Sterben, hier versammeln sich seine Kinder.

Edi trifft auf seinen jüngeren Bruder Manuel (Nikolaus Benda), der sich um die Reste des diskreditierten Unternehmens kümmert, auf seine Halbschwester Uma, die als Affärenkind um Anerkennung ringt – die ständig zwischen Englisch und Deutsch umschaltende Orit Nahamias ist in beinahe jeder Ronen-Produktion zu sehen – und auf Fred (Kelvin Kilonzo), den Sohn aus zweiter Ehe, den die Geschwister beneiden, weil ihn der Vater mit einem millionenschweren Aktiendepot ausgestattet hatte, bevor alles den Bach herunterging.

Lauter kaum vernarbte Wunden, die prompt wieder aufbrechen

Lauter kaum vernarbte Wunden, die prompt wieder aufbrechen, als es plötzlich doch noch etwas zu holen gibt: Sinan Güleç taucht als herrlich halbseiden radebrechender Schmuggler auf, im Gepäck ein Gemälde, das als kollaterale Sicherheit für einen Kredit diente, mit dem Jewgeni Prigoschin – der abgestürzte Chef der Wagner-Söldnergruppe – seine Waffenkäufe beim Reeder-Patriarch finanziert hatte. Dreimal dürfen sie raten, um welches Bild es sich handelt. Das ist selbstredend reinste Kolportage, gefährlich nah am Rande der Klamotte, jedenfalls oft von großer Komik. Aber so arbeitet Yael Ronen.

Die langjährige Hausautorin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters begibt sich mit ihrem jeweiligen Ensemble auf Themensuche, bemüht sich dabei stets um größtmögliche Aktualität, und haut in einwöchiger Klausur eine spielbare Vorlage heraus, keine Textfläche oder frei assoziierende Suada, sondern ein „well-made play“, ein erstaunlich gut gebautes Stück. Aber Ronen ist eben nicht einfach nur eine menschliche Textverarbeitungsmaschine. Ihre Gerüste mögen denen des Boulevardtheaters ähneln, doch hängt sie an ihnen die großen Fragen unserer Zeit auf.

Im Kölner Fall verhandeln die uneinigen Möchtegern-Erben über die Rolle der Kunst im Angesicht der Katastrophe: Legt sie Zeugenschaft ab über die großen Schiffbrüche der Menschheit? Oder ist sie perverses Luxusgut, unversteuert in Freihäfen eingelagerte Kredit-Garantien, mit denen sich die Reichsten ruhige Fahrt selbst bei höchstem Wellengang sichern? Der Goya-Experte Edi möchte das Bild dem Prado schenken: „Was könnte in diesem Moment relevanter sein als ein Kunstwerk, das fragt: Bist du Zeuge – oder Mittäter?“, fragt er. „Wohin schaust du, wenn das Grauen direkt vor deinen Augen stattfindet?“

Aber als er plötzlich dringend Geld braucht, weil ihn ein ehemaliger Assistent wegen sexuellen Missbrauchs verklagt, dreht sein hehres Kunstverständnis so schnell wie der Wind. Ronen inszeniert das alles mit lakonischem Humor und großer Rasanz, vor allem die Dialogduelle zwischen Englert und Benda geraten spektakulär. Das ist irre unterhaltsam – und doch lässt die Regisseurin uns nie den Zivilisationsuntergang vergessen, der nicht nur das schöne Haus am Meer bedroht, sondern uns alle. Nicht anders als Yuri Englerts Edi, der in einer der lustigsten Szenen fast wollüstig das unbekannte Goya-Meisterwerk betrachtet (bevor er sich fragt, was das Werk für ihn tun kann), schauen wir vergnügt dem turbulenten Bühnengeschehen zu. Wir sitzen alle in einem Boot. Fragt sich, wer als Erster springt.