Ausstellung im Kunstmuseum BonnMit Vertikalen vertrieb Günter Fruhtrunk die Dämonen des Kriegs

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Gelbe und schwarze Streifen bilden ein Muster.

Günter Fruhtrunks „Progression in zwei Richtungen“ (1968-69) stand für die Moderne der deutschen Nachkriegszeit.

Günter Fruhtrunk entwarf die Aldi-Plastiktüte und schuf Ikonen der deutschen Nachkriegszeit. Jetzt kann man ihn in Bonn wiederentdecken. 

Sie sollten es von ihm selbst erfahren, bevor der Beweis über die Straßen wippte. Also gestand Günter Fruhtrunk seinen Studenten, dass er eine Plastiktüte für den Aldi-Konzern gestaltet hatte. Leugnen wäre ohnehin zwecklos gewesen. Das Motiv bestand aus diagonalen, gegeneinander versetzten Streifen in Weiß und Blau und verriet den Urheber sofort. „Ich habe gesündigt“, sagte Fruhtrunk, seit 1970 Professor an der Münchner Kunstakademie, und steckte als Buße 400 D-Mark in die Klassenkasse.

In den 1970er Jahren konnte man Fruhtrunk und seinen „Streifen“ (für ihn selbst waren es Farbbänder) in der Bundesrepublik kaum entgehen. Seine mehrfarbigen Schrägen standen für das neue, angeblich rundum erneuerte moderne Deutschland und fanden sich außer auf Plastiktüten und Gemälden auch auf Fassaden und Wänden staatlicher Neubauten – selbst einen Entlüftungsschacht der Münchner U-Bahn am Stachus verzierte Frühtrunk mit Farbbändern in Grün- und Rottönen. Das Sündenregister füllte sich, denn das, was seine Malerei ausmachte, das seltsame Flirren zwischen Ordnung und Chaos, hatte im Stadtbild selbstredend keinen Platz. Die ikonische Einkaufstüte grenzte an Selbstverleugnung und Fruhtrunk büßte dafür, indem er nach seinem Freitod im Jahr 1982 erst missverstanden und schließlich in die Ecke der muffigen Nachkriegsabstrakten abgeschoben wurde.

Fruhtrunk baute Ordnungen, um sie zu untergraben, und stellte Regeln auf, um sie zu brechen

Dabei gehörte Fruhtrunk, wie jetzt die große ihm gewidmete Retrospektive im Bonner Kunstmuseum zeigt, eher zur poppigen Op Art als zu den mit Zirkel und Lineal bewaffneten Konstruktivisten. Statt die ins Gefühlige irrlichternden Farben der Vernunft geometrischer Formen zu unterwerfen, wollte Fruhtrunk das genaue Gegenteil. Er baute Ordnungen, um sie zu untergraben, und stellte Regeln auf, um sie zu brechen. Das hartnäckige Klischee, alle Fruhtrunks glichen einander, gilt nicht einmal für die farbigen Bänder auf einem einzigen seiner Bilder. Für Fruhtrunk gab es im Grunde kein Grün oder Gelb. Sondern nur Farbtöne und Farbschattierungen, deren Möglichkeiten unendlich sind.

Fruhtrunk spielte mit dem ersten Blick, dem man in der Malerei ohnehin nicht trauen darf. Auf den ersten Blick sieht man auf einem Bild wie „Vektoren“ nur Schwarz und Grün und teilweise gegeneinander abgesetzte Diagonalen. Aber wenn man nur eine Sekunde zu lange vor ihm stehen bleibt, beginnen die Gewissheiten zu schwinden. Grün ist nicht gleich grün, Schwarz nicht gleich Schwarz, und die dünnen dunkelblauen Verbindungslinien werden überhaupt erst aus der Nähe sichtbar. Das alles ist mehr Schwindel als reine Mathematik. Man beginnt dem Maler und dann den eigenen Augen zu misstrauen – genau das entsprach wohl Fruhtrunks Lebensgefühl.

Grüne und schwarze Streifen sind über eine quadratische Fläche verteilt.

Günter Fruhtrunks Gemälde „Vektoren“ (1969-70) ist derzeit im Kunstmuseum Bonn zu sehen.

Zu Fruhtrunks wenigen Gewissheiten gehörte, dass ein Bild niemals fertig ist, weil es so etwas wie eine endgültige Ordnung nicht geben kann – weder in der Kunst noch sonst irgendwo. Also fing er ein Motiv, kaum dass er es „vollendet“ hatte, noch einmal an. Seine Wiederholungen abstrakter Bilder, die er lediglich um wenige Nuancen variierte, hatte durchaus etwas Zwanghaftes. Aber es war der Zwang eines Malers, der weiß, dass Malerei weniger von dem lebt, was es zeigt, als von den Farben, die auf rational nicht zu erklärende Weise aufeinander reagieren.

Am wenigsten sieht naturgemäß der frühe Fruhtrunk den Klischeebildern ähnlich, die sich vor sein Werk geschoben haben. Anfang der 1950er Jahre mischte er noch Kies unter die Farben, um die Oberflächen seiner abstrakten Bilder aufzurauen. Eine „Statische Komposition“ erinnert an geometrische Schablonen, die Farben sind gedeckt – man denkt an Teppichmuster und Raufasertapeten, aber auch in diesen Puzzlearbeiten ging es Fruhtrunk bereits darum, seine Leinwände durch die Karambolage von Formen und Farben in Bewegung zu versetzen. Es folgen sehr aufgeräumte Bilder mit schwebenden Bumerangs, Kreisen und Streifen vor monochromen Hintergründen, bis in den 1960er Jahren die scheinbar eindeutigen Vertikalen und Horizontalen die Oberhand gewinnen. Mitunter suchte Fruhtrunk Anleihen bei der Musik. Johannes Sebastian Bach zeigte ihm, wie man ein Ordnungssystem in Schwingungen versetzt.

In den 1970er Jahren perfektionierte Fruhtrunk sein Konzept, die Bilder wurden monumentaler, die Fallen für das Auge subtiler und gemeiner. Auf den ersten Blick erscheinen seine Gemälde von allen Zweifel bereinigt zu sein, auf den zweiten reichen sie bis an die Wurzeln der Malerei. Gleichzeitig verarbeitete Fruhtrunk mit dieser gemalten Chaostheorie wohl ein privates Drama: Im Weltkrieg wurde er mehrfach verwundet, die Nachwirkungen einer Kopfverletzung begleiteten ihn sein Leben lang. Sicherheit gab es für ihn nicht, er litt zusehends unter Depressionen. Auf den Bildern seiner späten Jahre scheinen die Vertikalen in rasender Fahrt an uns vorüberzuziehen. Dann verlöschen die Farben, das letzte Gemälde der Ausstellung versinkt in Schwarz. Am 12. Dezember 1982 schied Fruhtrunk aus dem Leben, indem er giftige Farbe trank.

So lässt sich in Bonn ein deutscher Klassiker neu entdecken, dessen Werk nicht nur für das moderne Nachkriegsdeutschland stand, sondern auch für die Vergangenheit, die sie „bewältigen“ helfen sollte. In dieser Deutlichkeit hat man dies noch nicht gesehen.


„Günter Fruhtrunk. Retrospektive 1952-1982“, Kunstmuseum Bonn, Museumsmeile, Di.-So. 11-18 Uhr, Mi. 11-21 Uhr, bis 10. März 2024. Der Katalog kostet 34 Euro.

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