Historischer Impfpflicht-BefürworterGoethe zur Pockeninfektion – aus aktuellem Anlass

Der alte Goethe diktiert seinem Schreiber John - Ölbild von Johann Joseph Schmeller (1834)
Copyright: Johann Joseph Schmeller/Anna Amalia Bibliothek
Köln – Goethe als Pate der Corona-Impfkampagne? Ja, es liest sich tatsächlich so. Seinerzeit, im Jahre 1831, ging es freilich nicht um Corona, sondern um eine andere gefürchtete und verheerende Viruskrankheit, die auch in Deutschland erst im 20. Jahrhundert ausgerottet wurde: „die Pocken“. Unter dem 19. Februar besagten Jahres – Goethe war damals 81 Jahre alt, hatte noch ein gutes Jahr zu leben – überliefert sein Sekretär Johann Peter Eckermann ein Tischgespräch mit dem Weimarer Großherzoglichen Leibarzt, Hofrat Karl Vogel, in dem es um eine „kleine“ Pockenepidemie in Eisenach ging.
Vogel berichtete, dass die Krankheit „trotz aller Impfung mit einem Male wieder hervorgebrochen seinen und in kurzer Zeit bereits viele Menschen hingerafft hätten“. Bei Vogel führte das Ereignis – heute würden wir von einem Impfdurchbruch sprechen – zu nicht weniger als einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der bereits bestehenden Impfpflicht: „Man hielt die Schutzblattern so sicher und so untrüglich, dass man ihre Einimpfung zum Gesetz machte. Nun aber dieser Vorfall in Eisenach, wo die Geimpften von den natürlichen dennoch befallen worden, macht die Unfehlbarkeit der Schutzblattern verdächtig und schwächt die Motive für das Ansehen des Gesetzes.“
Auf die aktuelle Situation angewendet und entsprechend umformuliert: Die empirisch nachgewiesene Minderwirkung der Impfung ist Wasser auf die Mühlen der Impfgegner bzw. der Gegner einer gesetzlich verordneten Impfpflicht.
Aber da war Goethe vor. Eckermann überliefert seine Antwort: „Dennoch aber bin ich dafür, dass man von dem strengen Gebot der Impfung auch ferner nicht abgehe, indem solche kleine Ausnahmen gegen die unübersehbaren Wohltaten des Gesetzes gar nicht in Betracht kommen.“ Vogel schwenkt darauf ein und mutmaßt, dass „in allen solchen Fällen, wo die Schutzblattern vor den natürlichen nicht gesichert, die Impfung mangelhaft gewesen ist“. Das Gegenmittel der Wahl: „Eine verstärkte Impfung der Schutzblattern zur Pflicht zu machen.“ Zeitgemäß formuliert: Die Herdenimmunität soll es bringen.
Goethe bedauert daraufhin, dass man „aus Schwäche und übertriebener Liberalität überall mehr nachgibt als billig.“ In heutiger Sprache: Individuelle Freiheit kommt dort an ihre Grenzen, wo sie die Freiheit des Anderen beeinträchtigt – genauer: dessen legitimen Anspruch darauf, nicht durch die mangelnde Sorgfalt und Solidarität von Artgenossen infiziert zu werden.
Weil die Parallelen zur Corona-Konstellation über den Abstand der Jahrhunderte hinweg mit verblüffender Deutlichkeit zutage liegen, sind Goethes Impf-Äußerungen in jüngster Zeit wiederholt aufgegriffen worden, am eindringlichsten wohl von dem Juristen und Diplomaten, Musiker und Literaturwissenschaftler Manfred Osten. Das neue Buch („Die Welt, «ein großes Hospital». Goethe und die Erziehung des Menschen zum «humanen Krankenwärter»“ ) des vormaligen Präsidenten der Alexander von Humboldt-Stiftung in Bonn und intimen Goethe-Kenners stellt sie indes in einen größeren Zusammenhang:
Goethe habe in prophetischer Vorwegnahme bereits jene Trends der technischen und gesellschaftlichen Moderne negativ beschrieben, die in unseren Tagen eben in einer weltweiten Pandemie terminierten. Die menschlichen „Späße“ mit der Natur endeten in jenem „großes Hospital“, wo „einer des anderen humaner Krankenwärter werden wird“ – dies die Formulierung in einem Brief von 1787 an Charlotte von Stein.
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Modern-aktuelle Begriffe wie „Pandemie“ und „Immunisierung“ erfahren freilich bei Osten, auf dass sie vollends „Goethe-kompatibel“ bzw. Goethes Äußerungen Corona-kompatibel werden, eine metaphorische Erweiterung. Und verdanken ihre Suggestivität damit ein Stück weit einem intellektuellen Taschenspielertrick.
„Pandemisch“ ist in Ostens Goethe-Sicht und zumal seiner Sicht auf den zweiten „Faust“ die „Zerstörung der Natur-Elemente“, die destruktive und im Zug der Globalisierung beschleunigte Grenzen- und Maßlosigkeit, das „Veloziferische“, die eine kollektive humane „Immunschwäche“ produzierten; mit Kierkegaard: eine „Krankheit zum Tode“. Heilung verspricht in diesem Sinn und mit Goethe im Rücken nur Umkehr: Mäßigung, Entschleunigung und Askese.
Die Gedankenfigur ist nicht neu
Das kann sich hören lassen: Goethe wird in dieser Perspektive, die sich auf dem Fundament zahlreicher Textstellen entwickelt, zu nicht weniger als einem Grünen avant la lettre. Als Gedankenfigur ist das freilich nicht neu: Der Germanist Heinz Schlaffer interpretierte bereits vor Jahrzehnten „Kaiserliche Pfalz“ und „Mummenschanz“ in „Faust II“ auf eine Weise, dass dieser und Karl Marx’ „Kapital“ einander wechselseitig zu kommentieren begannen.
Vor allem aber: Es bleibt – und das betrifft beileibe nicht Ostens klugen, gedanken- und anregungsreichen Essay allein und gar nicht Peter Sloterdijks geistvolles, mit dem Haupttext allerdings nur locker verbundenes Nachwort – das Problem einer allzu aktualistischen Kurzschließung unterschiedlicher historischer Horizonte; das Problem der sei es auf Anhieb noch so plausiblen, tatsächlich aber hermeneutisch fragwürdigen Unterschlagung der Epochendifferenz. Gesetzestreue zum Beispiel – bedeutet sie unter den Bedingungen eines spätabsolutistischen Kleinstaats dasselbe wie heutzutage?
Goethe ist nicht unser Zeitgenosse
Goethe ist, leider, nicht unser fiktiver Zeitgenosse, an dessen Tiefsinn wir 1 zu 1 partizipieren könnten. Darüber würde der Dichter letztlich auch nur zum Spender allemal zitatenreifer und also wohlfeiler Weisheiten degradiert. Goethe als Vademecum und Lebenshilfe – das wäre im schlimmsten Fall ein Rückfall in die gartenlaubenhafte Klassikerverehrung des 19. Jahrhunderts.
Darüber hinaus ist der Dichter nur als Ganzes zu haben – mitgegangen, mitgefangen: Wer ihn als Quelle unverbrüchlicher Wahrheiten preist, müsste in dieses Preislied auch seine Ablehnung demokratischer Errungenschaften, seine Haltung zu Pressefreiheit und Todesstrafe einbeziehen. Da dürften vielen dann allerdings und mit guten Gründen lange Zähne wachsen.
Keine Frage: Die zitierten „Impf-Passagen“ sind interessant und allemal einer einordnenden Diskussion wert – zumal sich in diesem Fall die Bezüge zu unserer Lebenswelt auch dem Vorsichtigsten aufdrängen. Trotzdem: Goethe taugt nicht zum Führer aus der Pandemie – dafür ist er einfach zu weit weg. Mit den Herausforderungen unserer Zeit müssen wir schon selber fertig werden.
Manfred Osten: „Die Welt, «ein großes Hospital». Goethe und die Erziehung des Menschen zum «humanen Krankenwärter». Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk“, Wallstein,160 Seiten, 18 Euro