Invasion in die UkraineWarum die Hoffnung auf „ewigen Frieden“ in Europa trog

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Demonstration gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine.

Köln – Der Krieg ist da. Nicht nur auf dem ukrainischen Schlachtfeld, sondern auch als Tatsache in den Hirnen der gewohnheitsmäßig pazifistisch gestimmten Westeuropäer. Weil derzeit geschieht, was niemand „hierzulande“ ernsthaft für möglich gehalten hatte – jedenfalls nicht unmittelbar vor der eigenen Haustür –, sprechen viele jetzt von einer Zeitenwende, von einem historischen Wendepunkt.

Um einen solchen handelt es sich tatsächlich: In diesen Stunden und Tagen geht die europäische Nachkriegsordnung definitiv in die Brüche, und damit endet auch jene europäische Windstille seit 1945, in deren Zeichen sich zumal die Deutschen den Gedanken an einen womöglich sie selbst unmittelbar betreffenden Krieg abgewöhnen konnten. Das Ende der Geschichte ist zu Ende, die Geschichte hat „uns“ wieder.

Frieden war in Europa selten von Dauer

Europäische Friedensordnungen haben es an sich, dass sie nicht ewig dauern – das gilt für die Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg genauso wie für den Westfälischen Frieden von 1648 und den Wiener Kongress von 1814/15. Trotzdem bezeichnen alle drei Ereigniskomplexe Entwicklungsstufen vor allem im Völkerrecht, deren Erbe bis heute fortwirkt.

Der Sonderfriede von Basel anno 1795, in dem Preußen nach den Revolutionskriegen den Rhein als Ostgrenze Frankreichs anerkannte, kann nicht den Anspruch erheben, eine und sei es vorläufige kontinentale Friedensordnung begründet zu haben. Indes inspirierte er den Philosophen Immanuel Kant in Königsberg zu einer seiner berühmtesten und in der europäischen Öffentlichkeit sogleich nach Erscheinen leidenschaftlich rezipierten und diskutierten Texte: der Schrift „Zum ewigen Frieden“. Kant macht darin – übrigens sehr nüchterne und darin der emphatischen Titeldiktion durchaus widersprechende, sie sogar in ein ironisches Licht tauchende – Vorschläge, auf welchem Wege Kriege abzuschaffen seien. Und wie die Jahreszahlen 1648, 1815 und 1945 sich auch im Nachhinein als Schlüsselstationen auf dem Weg zu einer es kodifizierenden Weiterentwicklung des Völkerrechts darstellen, so ist Kants Friedenskonzept kraft seiner imposanten und weit ausgreifenden Denkleistung bis heute aktuell geblieben.

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In der Tat lohnt es sich, auch den russischen Überfall auf die Ukraine einmal aus der Perspektive von Kants Friedensschrift zu lesen. Zweifellos kann diese nicht eins zu eins auf das frühe 21. Jahrhundert appliziert, sondern muss zeitgemäß reformuliert werden. Der Krieg, den Kant beenden wollte, war der räumlich begrenzte Konflikt zwischen Kabinetten und Staaten. Der Volks- und Bürgerkrieg, erst recht der ideologisch gesteuerte und die Trennung zwischen kämpfender Truppe und Zivilbevölkerung aufhebende Vernichtungskrieg lag noch außerhalb seiner Vorstellungswelt.

Darüber hinaus hat die Friedensschrift unbestreitbar auch blinde Flecken. Im Kern des Projekts steht – nachdem Kant das souveräner Staatlichkeit traditionell zugebilligte „ius ad bellum“ (Recht zum Krieg) mit einem Federstrich als pure Willkür vom Tisch gewischt hat – die Gründung des Völkerrechts „auf einen Föderalism freier Staaten“. Dieser große Gedanke, der nach dem Ersten Weltkrieg im Völkerbund, nach dem Zweien dann in den Vereinten Nationen materiale Gestalt annehmen sollte, krankt an der fehlenden Rechtsverbindlichkeit, die durch eine verfassungsanaloge Einrichtung hätte hergestellt werden müssen.

Immanuel Kant war kein naiver Utopist

Falsch aber wäre der Vorwurf eines blauäugigen Utopismus: Kant benennt die Bedingungen der Möglichkeit von Frieden – nicht mehr und nicht weniger. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden, gibt es keinen Frieden. Wie es um die Realisierbarkeit dieser Bedingungen steht, ist eine wichtige Frage, allerdings eine Folgefrage.

Interessant ist aber dann doch der verhaltene Optimismus, mit dem Kant seine Friedensidee in universalhistorischer Perspektive ausstattet: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt.“

Es ist an dieser Stelle unmöglich, Kants komplexe Schrift mit dem Blick auf Putins völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine Punkt für Punkt durchbuchstabieren. Zwei zentrale Aspekte seien herausgehoben. Als Voraussetzung eines außenpolitischen Rechtspazifismus benennt Kant gleich im ersten „Definitivartikel“ die „republikanische“ Staatsverfassung, die er von der „despotischen“ unterscheidet: Wenn alle Staatsbürger berechtigt sind, über Krieg und Frieden abzustimmen, die Entscheidung darüber also nicht von der Willkür eines Gewaltherrschers abhängt, dann wird es laut Kant so leicht keinen Krieg geben – weil alle wissen, was sie dabei zu verlieren haben.

Demokratien führen seltener Kriege als Despotien

Tatsächlich zeigt ja die Weltgeschichte, dass Demokratien, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Kriege gegeneinander geführt haben. Die Anwendbarkeit dieser Erkenntnis auf den Ukraine-Krieg liegt auf der Hand: Er wird geführt, weil nicht Russland – genauer: die russische Gesellschaft – ihn wollte, sondern ein sein eigenes Volk unterdrückender Diktator, ein „Despot“ in Kants Terminologie. Kaum denkbar, dass es den Krieg gäbe, säße im Kreml noch ein Regierungschef mit der mentalen Konstitution eines Gorbatschow. Der Umkehrschluss lautete – wiederum in Kants Sicht: Eine der Bedingungen der Kriegsmöglichkeit hat einen konkreten Namen: Putin.

Ein zweiter wichtiger Aspekt ist Kants Behauptung einer pazifizierenden Wirkung des „Handelsgeistes“. Putins Krieg widerlegt sie auf Anhieb – er wurde trotz intensiver wechselseitiger ökonomischer Abhängigkeiten zwischen Russland und Westeuropa vom Zaun gebrochen. Diesbezüglich gilt es freilich, nach den Gründen zu fragen.

Zum ewigen Frieden - ein umöglicher Traum?

Unstrittig hat der „Handelsgeist“ die westeuropäischen Länder lange daran gehindert, Putin härter anzufassen, als es vielleicht nötig gewesen wäre. Und auch Putin muss klar sein, dass die jetzt verhängten Sanktionen die russische Wirtschaft schädigen werden. Aber offensichtlich wurde dieser Hinderungsgrund durch andere Motive getoppt – Motive ideologischer Natur wie der völkisch grundierten Vorstellung eines russisch dominierten osteuropäischen Raumes. Inklusive einer situationsgerecht aufgefrischten Breschnew-Doktrin.

Kant widerlegt? Nicht ganz, denn aus seiner Perspektive hätte sich im Fall einer republikanischen Staatsverfassung mit Bürgerbeteiligung an den politischen Entscheidungsprozessen der „Handelsgeist“ sehr wohl gegen bellizistische Imperative durchgesetzt. Diese Erörterung führt den Kant-Leser auf den nämlichen Sachverhalt: Es ist die „despotische“ Staatsverfassung Russlands, die den Frieden verhindert und den Krieg ermöglicht.

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