Jürgen Domian„Ich könnte die Sendung noch zehn Jahre machen“

Lesezeit 10 Minuten
Jürgen Domian Interview

Telefonseelsorger Jürgen Domian.

Köln – Herr Domian, nächsten Freitag ist nach fast 22 Jahren Schluss mit „Domian“. Ist Ihnen der Dauertalk am Ende langweilig geworden?

Überhaupt nicht! Ich könnte die Sendung noch zehn Jahre machen. Sie ist nach wie vor eine große Herausforderung, sie gibt mir so viel und sie macht mir einfach großen Spaß. Zudem haben wir tollen Rückhalt beim Publikum. Ich höre auf, weil ich nicht mehr in der Nacht arbeiten will. Dieses gegen alle Rhythmen laufende Leben geht mir inzwischen zu sehr an die Substanz. Ich habe in den vergangenen zwei Jahren zweimal mit einem Hörsturz in der Sendung gesessen. Das waren eindeutige Signale meines Körpers: Hör auf! Wenn ich Ärzten davon erzählt habe, wie ich lebe, haben sie regelmäßig die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.

Was war im Rückblick die für Sie anspruchsvollste Situation?

Alles zum Thema Universitätsklinikum Köln

Schwer zu sagen bei mehr als 22.000 Interviews. Am herausforderndsten sind die Gespräche mit Sterbenden oder mit Menschen, die gerade einen engen Angehörigen verloren haben. Als ich anfing, 1995, dachte ich: „Ach, das ist jetzt so ein Talk-Radio-Format nach US-amerikanischem Vorbild, ein bisschen mit Leuten reden über alles Mögliche und Unmögliche.“ Aber dann kam ziemlich bald der Anruf von Hubert, Anfang 30, Leukämie im Endstadium. „Hallo“, sagte er, „ich rufe vom Sterbebett aus an.“ Es war das erste Gespräch mit einem so schwer kranken Menschen. Er hatte sich zum Sterben nach Hause verlegen lassen und war durch Zufall beim Herumzappen auf uns gestoßen, weil er nicht schlafen konnte. In diesem Moment wurde mir klar, welche Kreise diese Sendung womöglich ziehen, in welche Tiefen und Höhen sie vorstoßen würde.

Eben!

In besonderer Erinnerung habe ich auch das Gespräch mit einer Frau, deren Kind entführt, sexuelle missbraucht und ermordet worden war. Niemandem von der Boulevard-Presse war es gelungen, an die Frau heranzukommen. Sie hatte sich total abgeschirmt. Bei uns hat sich dann aus freien Stücken gemeldet, weil sie reden wollte. Mit ihrem Mann und ihrem anderen Kind konnte sie nicht sprechen, weil alle durch das Unglück geschockt und verstummt waren. Ich habe über eine halbe Stunde mit ihr telefoniert, das ist für eine Radio- und TV-Format eine Ewigkeit. Das Publikum aber hat nicht weggeschaltet, die Quoten blieben stabil.

War das nicht auch für Sie ein Moment der Hilflosigkeit?

Solche Gespräche haben mir immer meine Grenzen gezeigt. Weil man keinen Trost formulieren kann. Das Leid ist einfach überwältigend. Allerdings habe ich im Laufe der Jahre gelernt, dass das Zuhören und da sein für einen Menschen in einer solchen Lage, durchaus eine Hilfe bedeutet. Die Trauer muss er alleine tragen, aber man kann ihm zur Seite stehen und ihn stützen.

Trösten und helfen – das ist wieder aus der Perspektive der Anruferin gedacht. Aber wie war das für Sie?

Es war natürlich belastend und äußerst bedrückend. Und dann dieses Wissen: Spätestens, wenn unsere Psychologen in der Nachbetreuung den Hörer aufgelegt haben, ist die Frau wieder allein mit ihrer Verzweiflung und ihrer Trauer. Dennoch kann ein Gespräch etwas helfen und ein Ventil sein.

Man sollte doch annehmen, jeder Mensch hat jemanden, der ihm näher ist als Domian in seinem Studio.

Das habe ich anfangs auch gedacht, nicht zuletzt, weil ich selber in der glücklichen Lage war, im Leben immer mindestens einen wirklich engen Vertrauten gehabt zu haben. Aber ich habe sehr schnell einsehen müssen, dass es für viele Menschen solch einen zentralen Anlaufpunkt eben nicht gibt. Selbst in Partnerschaften herrscht in den entscheidenden Fragen oft das große Schweigen.

Vor den Freunden schweigen sie

Immer wieder haben Anrufer vorangeschickt, Sie hätten noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Aber dann rufen sie in einer Live-Sendung an und schütten ihr Herz aus. Wie erklären Sie sich das?

Auch das hat mich zunächst selbst gewundert. Mittlerweile habe ich es verstanden. Viele Leute haben zunächst einmal einfach Scheu vor Psychologen, vor Therapeuten und Psychiatern. Ich bin den Leuten durch meine alltägliche Präsenz über so viele Jahre zu einem guten Bekannten, wenn nicht Freund geworden. Das schafft großes Vertrauen. Die Leute wissen, dass bei uns niemand vorgeführt wird, dass jeder ernst genommen wird. Hinzu kommt die Anonymität – und die Nacht mit ihrer besonderen Atmosphäre. Das kennen Sie doch bestimmt auch: Nachts sind die Emotionen stärker, unmittelbarer. Man ist auf sich zurückgeworfen. Wenn man dann noch allein im zu Hause ist, keiner ist da zum Reden – außer dem Mann im Fernsehen, der gerade über etwas spricht, was man selber so oder so ähnlich auch erlebt hat, dann greift man eben zum Hörer.

Welche Rolle spielt die Sehnsucht nach den „15 Minuten Ruhm“, von denen Warhol mal gesprochen hat?

Die gibt es auch. Das Format lässt ja alles zu: Unterhaltung, Infotainment, Politik. Und wir waren sozusagen ein Echo für die großen Katastrophen unserer Zeit. Nach dem ICE-Unglück von Eschede 1998 rief noch am gleichen Abend ein junger Mann an, der durch das Unglück seine Eltern verloren hatte. Nach dem Amoklauf von Winnenden 2009 meldete sich noch am selben Abend der Vater eines getöteten Schülers. Auch am Abend des 11. September 2001 hatten wir einen Augenzeugen, der unmittelbar neben dem World Trade Center gestanden hatte. Das alles war journalistisch hochinteressant. Nach manch einem Anrufer hätte jeder Kollege wie ein Wahnsinniger recherchieren müssen. Bei uns meldeten sich die Leute freiwillig.

Kamen Sie sich manchmal vor wie der Beichtvater der Republik?

Der Münchner Kardinal Reinhard Marx, hat mir einmal „eine moderne Form der Seelsorge“ attestiert, von der sich seine Pfarrer eine Menge abschneiden könnten. Das hat mich sehr gefreut. Ich lebe ja mittlerweile in Frieden mit Kirche und Religion. Früher war das anders. Als junger Mann war ich ein fast fanatischer Christ. Nach der Lektüre von Nietzsche und Feuerbach aber brach mein Glauben vollkommen zusammen, und ich wurde ein flammender Atheist. Bis ich kapierte, das dies wieder eine Form des Glaubens war. Dann begann eine Zeit des Suchens. Heute stehe ich dem Zen sehr nahe und habe durch ihn auch wieder Zugang zum Christentum gefunden.

Wäre Ihr Sendeformat für Sie einfacher, wenn Sie noch so gläubig wären, wie Sie es früher einmal waren?

Eindeutig ja. Denn ein gläubiger Christ kann die Geschehnisse anderes einordnen als ein Atheist. Ich habe großen Respekt vor Priestern und Pfarrer, die die Fähigkeit besitzen, mit ihrem Trost auch Menschen zu erreichen, die eben nicht gläubig sind. Der langjährige Seelsorger der Uniklinik Köln, Pfarrer Wolfgang Klein, konnte das hervorragend. Leider ist er dieses Jahr tragisch verstorben. Ich habe ihn sehr geschätzt.

Sex ist kein Thema mehr

Wie haben sich die Themen und die Tonlagen der Anrufer verändert?

Die Sexthemen haben nachgelassen. Meine Erklärung: Als wir angefangen haben, gab es das Internet noch nicht oder erst ganz marginal. Heute kennen die Leute, gerade auch die jungen, jede Schweinerei und jede Abartigkeit aus dem Netz. Heute interessieren sich die Leute am meisten für die menschlichen Dinge: Liebe, Eifersucht, Tod, Trauer, Freundschaft, Glück. Seit etwa zehn Jahren haben wir zudem vermehrt junge Leute mit Migrationshintergrund, die kulturell zwischen den Stühlen hängen. Sie fühlen sich nicht mehr ihrer alten Kultur verpflichtet und wollen eigentlich so leben wie die Menschen im Westen. Das sind oft dramatische Gespräche mit jungen Frauen und schwulen Moslems.

Wie haben Sie selber sich verändert? Führen Sie Gespräche heute anders als in der Frühphase der Sendung?

Das hoffe ich doch! Ich gehe anders an die Gespräche heran als vor 20 Jahren, scanne schneller, mit wem ich es zu tun habe. Manchmal reicht schon die Art, wie jemand „Hallo“ sagt, um Bescheid zu wissen.

Der sechste Sinn der Menschenkenntnis?

Weiß ich nicht. Zumindest hat sich mein Sensorium durch 22 000 Interviews verfeinert und bewährt. Aber ich glaube, jeder Taxifahrer, jeder Kellner könnte aus seinen Erfahrungen Ähnliches berichten. Verändert habe ich mich insofern, als ich vorsichtiger geworden mit dem Bewerten. Früher habe ich schon eher mal etwas rausgehauen und die Anrufer scharf damit konfrontiert, was ich für gut oder schlecht hielt.

Eine Therapeuten-Todsünde!

Die ich ganz bewusst begangen habe. Schließlich bin ich kein Therapeut. Ich glaube, wir säßen nicht hier und redeten über zwei Jahrzehnte „Domian“, wenn ich das anders gemacht hätte. Der damalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen hat mir ganz am Anfang ein paar Dinge mit auf den Weg gegeben: „Halten Sie sich an die Gesetze, die allgemeinen und die WDR-Gesetze – und machen Sie ansonsten, was Sie wollen!“ Grandios, wenn ein Chef so etwas sagt, oder? Und dann hat er noch gemeint: „Reden Sie nicht als Journalist mit den Leuten! Unterhalten Sie sich so mit ihnen, als säßen Sie mit ihnen in der Kneipe beim Bier oder beim Kaffee! Seien Sie so privat und authentisch wie möglich!“ Genau das war es.

Sie haben mal gesagt, Ihr Menschenbild sei pessimistischer geworden. Warum?

Ich habe mit so vielen Gewaltopfern und eben auch Gewalttätern gesprochen, dass sich für mich Abgründe aufgetan haben, die ich mir früher so nicht vorstellen konnte. Aber Gott sei Dank bin ich darüber nicht zum Zyniker geworden. Denn es haben eben auch extrem tapfere, mutige, selbstlose und überaus gute Menschen angerufen, die mir ihre Geschichten erzählt haben. Sie wiegen das Düstere und Böse wieder auf.

Was war denn nun in all den Jahren Ihr lustigstes Erlebnis?

Mit irgendeiner Frage in der Art habe ich schon gerechnet. Warten Sie, ich hab mir ein paar Sachen aufgeschrieben. (zieht einen Zettel aus der Tasche) Nicht wirklich lustig, aber extrem irritierend war mein erstes Gespräch über Objekt-Sexualität.

War da nicht mal einer mit einem Gummibaum?

Der kam später. Der erste war der Mann mit der Heimorgel. Heute gibt es große Studien über das Phänomen. Damals wusste kein Mensch davon. Und gesprochen wurde darüber schon gar nicht. Da ruft also einer an und sagt: „Ich bin verliebt in meine Heimorgel.“ Für mich im ersten Moment total schräg: Wie kann man denn einen Gegenstand lieben? Das klingt so albern, ich weiß. Aber es ist nicht albern. Offenbar gibt es Menschen, die keine erotische Sehnsucht nach einem menschlichen Partner haben. Die Sexualität kennt unendlich viele Spielarten, auf die wir langweiligen Normalos einfach nicht kommen.

Aber muss denn wirklich über alles geredet werden? Und sind Ihnen da nicht die WDR-Gremien in die Quere gekommen?

Nein. Das habe ich all die Jahre an meinem Sender geschätzt, es gab nicht eine restriktive Ansage. Obwohl wir oft nicht nur an die Tabugrenzen gegangen sind, sondern sie auch überschritten haben. Unsere Devise war: Solange man mit jemandem reden kann, kann man über alles reden.

Gab es je so etwas wie eine Erfolgskontrolle? Haben Sie zum Beispiel nachrecherchiert, was aus den Anrufern geworden ist?

Im ersten Jahr der Sendung habe ich das gemacht, indem ich mit etwas Abstand zur Sendung noch mal privat telefonisch Kontakt gesucht habe. Bald aber merkte ich, dass das nicht geht. Es hätte mich aufgefressen. Man muss sich in so einem Job abgrenzen.

Zur Person

Jürgen Domian, geboren 1957 in Gummersbach, moderiert seit dem 3. April 1995 die nach ihm benannte Sendung, die immer nachts zwischen ein und zwei Uhr im WDR-Fernsehen und im Hörfunk bei 1Live läuft. Die letzte Sendung wird am kommenden Wochenende in der Nacht von Freitag auf Samstag ausgestrahlt. Zwischen 1993 und 1995 moderierte Domian im Tagesprogramm bei WDR 1 die Vorläufersendung „Die heiße Nummer“. Er wird 2017 mit einer 1Live-Talk-Tournee in NRW unterwegs sein.

KStA abonnieren