Kölner BestsellerautorinWarum Melanie Raabe jedes Jahr einen Silvesterbrief an sich selbst schreibt

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26.09.2022, Köln. Die Schriftstellerin Melanie Raabe vor dem Literaturhaus  in Köln (Großer Griechenmarkt).Foto:WDR/Dirk Borm

Die Kölner Schriftstellerin Melanie Raabe

Die Kölner Bestseller-Autorin Melanie Raabe („Die Falle“, „Der Schatten“) schreibt für uns über ihre liebste Zeit im Jahr: die Atempause zwischen Weihnachten und Silvester.

Im Grunde bin ich ein Sommerkind, ich brauche Licht und Wärme. Da mag es zunächst einmal seltsam erscheinen, dass meine allerliebste Zeit im ganzen Jahr im tiefsten Winter liegt. Ich mag die Zeit unmittelbar nach dem Weihnachtsfest. Ich mochte sie schon immer, diese ruhigen, entschleunigten Tage zwischen Weihnachten und Silvester.

Ich liebte sie schon, als mein Lebensalter noch einstellig war und ich noch nicht wusste, wie man Entschleunigung buchstabiert, geschweige denn, dass sich mein 41-jähriges Ich einst sehr danach sehnen würde. Sie ist besonders, die Zeit zwischen den Jahren.

Einer Romanfigur habe ich das mal genau so in den Mund gelegt: „Ich liebe die Zeit zwischen den Jahren, die Ruhe, die Leere, und ich mag diesen Ausdruck. Zwischen den Jahren. Mir gefällt der Gedanke, dass die Zeit kein einziger gewaltiger Strom ist, dem man nicht entgehen kann, der keine Müdigkeit kennt, keine Gnade, der keine Ausnahmen macht, der einfach durchs Universum walzt, erbarmungslos und kalt, sondern dass da eine Lücke ist zwischen den Jahren. Eine Atempause. Eine Zeit, die außerhalb der Zeit steht, ein paar Tage, in denen Dinge geschehen, die während des Rests des Jahres unmöglich sind.“

Sie ist besonders, die Zeit zwischen den Jahren.
Melanie Raabe

Das sehe ich ganz genauso wie meine Romanheldin Nico. Wort für Wort. Und tatsächlich hat man an vielen Orten auf diesem Planeten der Zeit gegen Ende eines Kalenderjahres schöne Namen gegeben. In Schweden beispielsweise trägt der Zeitraum die Bezeichnung Mellandagarna, in der Schweiz ist die Rede von der Altjahrswoche. Die Zeit zwischen den Jahren überschneidet sich zudem zum Teil mit den Raunächten – noch so ein schönes Wort!

Als das stille, eher introvertierte Kind, das ich war, genoss ich die Zeit, in der die Aufregung der Weihnachtstage mit allerlei Besuchen bei verschiedenen Verwandten vorbei war, und ich mich in aller Ruhe den Geschenken, die ich bekommen hatte, widmen konnte. Etwas Himmlischeres, als unter dem Weihnachtsbaum zu sitzen und in einem meiner neuen Bücher zu blättern oder ein neues Spielzeug auszuprobieren, konnte es gar nicht geben.

Einige meiner schönsten Leseerlebnisse stammen genau aus dieser Zeit. So erinnere ich mich beispielsweise sehr gut an das Jahr, in dem ich „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende unterm Weihnachtsbaum fand und zwischen den Jahren mit Bastian und Atréju durch Phantásien ritt. Später mochte ich es lange Zeit, an diesen Tagen im Büro zu sein. Ich genoss, wie selten das Telefon klingelte, wie wenige E-Mails reinkamen und wie entspannt und konzentriert ich arbeiten konnte.

Wären alle Arbeitstage so wie die zwischen den Jahren, in vielen Jobs würde die Burn-out-Quote gegen null gehen.
Melanie Raabe

Wären alle Arbeitstage so wie die zwischen den Jahren, in vielen Jobs würde die Burn-out-Quote gegen null gehen. Heute versuche ich meist, keine beruflichen Termine nach Weihnachten anzunehmen. Was leicht fällt, denn Anfragen für diese Zeit gibt es kaum. Also nutze ich diese Tage zum Lesen, zum Ausruhen und zur Reflexion.

Vor gut einem Jahrzehnt habe ich zu diesem Zweck sogar mein eigenes kleines Ritual entwickelt. Ich nenne es den Silvesterbrief, und es funktioniert so: Jedes Jahr zwischen den Jahren, spätestens an Silvester, schreibe ich einen Brief. Die Adressatin bin ich selbst. Ich schreibe von Hand und in aller Ruhe, vielleicht eine Tasse Kaffee oder Tee neben mir. Manchmal am Schreibtisch, manchmal unterm Weihnachtsbaum, während der Glanz der Lichterketten aufs Papier fällt. Ich blicke schreibend auf das vergangene Jahr zurück und lasse es Revue passieren. Und ich blicke nach vorne und notiere meine Hoffnungen, Wünsche und Pläne für das neue Jahr.

Dann stecke ich den Brief in einen Umschlag, verschließe ihn, adressiere ihn an mich selbst und lege ihn weg. Ich lese ihn genau ein Jahr später, an Silvester. Ab Jahr zwei dieser kleinen privaten Tradition hat das ganze Ritual also zwei Teile: Man liest den Brief aus dem vergangenen Jahr und schreibt den für das nächste.

Den Brief aus dem vergangenen Jahr zu öffnen, ist dabei jedes Mal wie eine kleine Zeitreise. Man lernt, wie sehr man sich binnen eines Jahres verändert, wie man wächst – manchmal in irrsinniger Geschwindigkeit, oft, ohne es selbst zu merken. Wer bin ich, wer will ich sein, was ist mir wichtig, wohin geht die Reise? Die Zeit nach Weihnachten ist ideal für solche Gedanken.

Zwischen den Jahren. Raunächte. Mellandagarna. Ich finde, das klingt magisch. Das klingt nach Eisblumen am Fenster, nach ruhigen Stunden und langen Abenden. Das klingt für mich nach ein paar Tagen, die man nicht strukturiert, nach Zeit im Kalender, die ohne Termine auskommt, die einfach fließen darf, ohne dass man sie in Kanäle zwängt.

Vielleicht liest man endlich dieses eine Buch, vielleicht schaut man sich sinnlos doch noch mal die hundertste Wiederholung von „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ an, einfach nur, weil man es kann. Oder man bricht auf zu einem langen Spaziergang. Die Hauptsache ist, man tut es langsam. Denn um Leistung geht es nicht zwischen den Jahren, ganz im Gegenteil. Und selbst, wenn man vielleicht bereits ein paar hehre Neujahrsvorsätze fasst: Zum Glück muss man sie ja noch nicht umsetzen.

Die Romane von Melanie Raabe sind bislang in mehr als 20 Ländern veröffentlicht worden. Zusammen mit der Künstlerin Laura Kampf produziert sie den wöchentlichen Podcast „Raabe & Kampf“. Im Oktober ist ihr neuester Roman, „Die Kunst des Verschwindens“ erschienen (btb Verlag, 400 S., 22 Euro).

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