Kolumne „Lacht nur – Ich find's gut“Schlager sind Schmalz pur? Na und?

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Schlagersänger Michael Holm bei einem Auftritt in der ZDF-Hitparade in den 70er Jahren

  • „Guilty Pleasure“ – ein Vergnügen mit Schuldgefühlen – nennt man im englischsprachigen Raum Filme, Serien, Shows, Musik oder Literatur, die man mag, obwohl man weiß, dass sie im Allgemeinen nicht besonders hoch geschätzt werden.
  • Solche Guilty Pleasures stellen wir in unserer neuen Serie „Lacht nur – ich find’s gut“ vor. Heute geht es um Schlager.

Was macht man, wenn die Frau eines der besten Freunde Gabi heißt, 60 wird und in diesen Tagen zu einer virtuellen Geburtstagsparty einlädt? Als Schlagerfan wusste ich sofort, was zu tun war: Gerd Böttchers Kultsong „Für Gabi tu ich alles“ (von 1962) heraussuchen und an passender Stelle einspielen.

Dieser Titel erfüllt in geradezu idealer Weise alle Bedingungen eines Ohrwurms: Eingängige Melodie, einfache rhythmische Struktur, unkomplizierter Text.  Die meisten Zoom-Partygäste wippten ohne Regieanweisung ganz automatisch mit Hüften und Schultern.

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Den Refrain sangen oder summten die meisten mit: „Für Gabi   tu ich alles /ich helf’ schon seit Wochen/ihr täglich beim Kochen/ und trag auch munter/den Mülleimer runter.“

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Studien, etwa des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt, haben die Erkenntnis zutage gefördert, dass erstaunlich viele Zeitgenossen Schlager durchaus mögen, dies aber nur ungern zugeben, um nicht als verstaubt, uncool oder als Kulturbanausen zu gelten.

Florian Silbereisen muss nicht sein

Es gehört also offenbar Mut dazu, sich als Anhänger dieser Musikgattung zu outen. Ich tue dies frank und frei: Ja, ich höre gern Schlager (solange sie nicht von Carmen Nebel oder Florian Silbereisen präsentiert werden) – aber finde Volksmusik grässlich.

Meine Qualitätsmaßstäbe  sind sehr subjektiv: Gut ist, was mir gefällt. Und das trifft auf viele Interpreten und deren Lieder zu. Howard Carpendale und Marianne Rosenberg sind darunter, natürlich Udo Jürgens, aber auch der tragische One-Hit-Künstler Christian Anders („Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“). Selbstverständlich Udo Lindenberg, Klaus Lage und Herbert Grönemeyer. Gern auch Sarah Connor und Peter Fox.

Selbst Andrea Berg ist bei mir nicht tabu

Und ich muss gestehen, dass selbst Andrea Berg (in niedriger Dosierung)  bei mir nicht tabu ist. Es hat schon was, wenn sie „Du hast mich tausendmal belogen“ zum zehntausendsten Mal ins Mikrofon haucht. Über ihr laszives Outfit schweigen wir lieber. „Sie kultiviert das Verruchte“, urteilt der Kulturwissenschaftler und Schlager-Experte Ingo Grabowsky.

Ich staune immer, mit welchen tiefschürfenden Analysen er in WDR-Erinnerungs-Sendungen wie „Ab in die 70er“ aufwartet. Zum Beispiel, dass Schlager auch eine Art Lebenshilfe bieten können.

Partykracher und Lebenshilfe

„Ein Stern, der deinen Namen trägt“ von  DJ Ötzi und Nik P. sei eben nicht nur ein Partykracher, sondern werde gern bei Beerdigungen gespielt und in Traueranzeigen zitiert. Vor 30 Jahren hätte man sich „lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass man Schlager hört und mag“, bekennt Grabowsky. Seine Kommentare sind die kundigsten, die von Guildo Horn die witzigsten.

Um jederzeit Zugriff auf meine Schätze zu haben, nehme ich die Oldie-Shows mit den grandiosen alten Livemitschnitten per USB-Recording auch aus dem NDR und RBB auf. So wie ganz früher die Hitparaden mit dem Tonbandgerät (!) oder dem Kassettenrekorder.

Michael Holm ist in den TV-Revivals Dauergast mit „Tränen lügen nicht“. Da schmilzt man im Sessel förmlich dahin. Toll wie er den Sprechgesang zelebriert. Einer meiner absoluten Favoriten ist „Michaela“, ein Super-Hit von 1972. Manchmal drücke ich drei- oder viermal die Wiederholungstaste.

Schmalz pur? Na und?

Einfach hinreißend, wie Bata Illic mit seiner sonoren Schmusestimme und dem bewusst kultivierten kroatischen Akzent seine große Liebe anhimmelt: „Mikka-el-la-aha/ du bist mein Sonnenschein/lass mich nie mehr allein.“ Schmalz pur? Na und?

Zu meinen persönlichen Top 20 gehört der großartige Song „September“ von Earth, Wind & Fire. Das ist zeitlos schöner Groove vom Besten. Rhythmisch mitwippen und mit den Fingern schnippen ist  Pflicht. Die Stelle mit den Solo-Bläsern – einfach genial.

Oder –  von wegen Schlager-Einerlei – „Dein ist mein ganzes Herz“, der Titel, mit dem Heinz Rudolf Kunze 1985 die Charts stürmte. In der Originalversion steht er auf meiner Playlist ganz oben. „Wo du nicht bist/kann ich nicht sein“, knödelte einst unnachahmlich der lyrische Tenor Rudolf Schock. Kunze hat mit seiner Band einen mitreißenden Party-Hit daraus gemacht, der mich auch ganz ohne Party jedes Mal wieder entzückt.

Später Reflex auf elterliche Zensur-Versuche

Meine Schlager-Begeisterung hat natürlich Gründe. Einer ist wohl ein später Reflex auf elterliche Zensur-Versuche in den 60er Jahren. Meine Eltern waren liebevoll und für damalige Verhältnisse beinahe liberal. Bei Musik stieß ihre Toleranz aber an deutliche Grenzen.

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Meine ersten beiden Platten („Dixieland Rock“ von Elvis und „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“ von Bill Ramsey) waren für sie bestenfalls Gedudel, eher aber Schund.

Sie waren ganz auf Klassik abonniert, auf „gute Musik“, wie meine Mutter gern sagte. Sonntags beim Mittagessen saß die Familie vor dem Radio und lauschte mehr oder weniger andächtig der Sendung „Schöne Stimmen“, vorzugsweise mit Opernarien.

Spießig? Irgendwie schon. Pädagogisch wertvoll? Gut gemeint, aber wirkungslos. Nach dem Essen verzog ich mich so schnell wie möglich mit dem Kofferradio ins Kinderzimmer, um in schlechter Mittelwelle-Qualität die Hitparade mit Camillo Felgen auf Radio Luxemburg zu hören.

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