Kommentar zum UrteilIch bin R. Kelly-Fan — ist es jetzt zu spät, das zu bereuen?

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R. Kelly vor Gericht 

New York – Ich bin R. Kelly-Fan. Na ja, war R. Kelly-Fan. Noch nicht einmal so sehr wegen „I Believe I Can Fly“ oder anderer gefühliger Balladen. Aber ich liebte seine durch und durch seltsamen „Hip-Hopera“ „Trapped in the Closet“. Und „Ignition (Remix)“ bleibt einer der besten Tracks der Nuller Jahre.

Dabei hätte ich es damals schon besser wissen können. 2002 wurde der R'n'B-Sänger zum ersten Mal wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs angeklagt, mit äußerst verstörenden Details. Und die Geschichte von der illegalen Heirat mit der damals 15-jährigen Aaliyah war schon lange zuvor durch die Medien gegangen.

Lady Gaga ließ ihn machen, was er wollte

Ich hätte es also besser wissen sollen. Wir hätten es besser wissen sollen. Lady Gaga, zum Beispiel, hätte es besser wissen können, als sie 2013 zusammen mit R. Kelly den Song „Do What U Want“ veröffentlichte. Aber genau so war es ja lange, lange Zeit: R. Kelly durfte tun und lassen, was er wollte.

Jetzt ist R. Kelly in einem Prozess um sexuellen Missbrauch in allen neun Anklagepunkten schuldig gesprochen worden. Ihm wird vorgeworfen, Frauen, Mädchen und Jungen missbraucht und ausgebeutet zu haben. Die Jury im New Yorker Stadtteil Brooklyn brauchte nicht allzu lange für ihre Beratung, die Beweislast war erdrückend. Dem Star, der sich so lange unangreifbar wähnte, droht lebenslange Haft.

R. Kelly ist kein Einzelfall

Warum dauerte das so lange? Menschen ignorieren die Menschlichkeit anderer Menschen, wenn die nicht in ihre Playlist passt. Kommentierte ein Kollege im US-Sender NBC. Den Schuh muss ich mir definitiv anziehen.

R. Kelly ist kein Einzelfall. Marilyn Manson, Michael Jackson, Jerry Lee Lewis: Sterne, die so hell strahlen, dass sie ihre Opfer ausblenden. Wir hören die Musik und sehen lieber nicht allzu genau hin. Sie sind ja weit weg.

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Im Fall R. Kelly war es die Dokumentation „Surviving R. Kelly“, die den Täter endlich vor Gericht brachte — und davor die heldenhafte Weigerung einiger seiner Opfer zu schweigen, auch wenn sie jahrelang auf taube Ohren stießen. Die MeToo-Bewegung hat da schon viel geändert. Aber es ist kein Zufall, dass das Leid schwarzer Frauen und Mädchen als letztes wahrgenommen wird.

Jetzt könnte man weiter diskutieren: Sollte man R. Kellys Musik aus Radio-Playlisten und Streamingdiensten verbannen? Ich jedenfalls möchte so bald kein R. Kelly-Stück mehr anklicken. Aber gilt das für immer? Letztlich ist das eine Scheindiskussion. Schreckliche Menschen können große Kunst machen, das bleibt eine unbequeme Wahrheit. Wie man mit ihr umgeht, dass muss jeder und jede für sich entscheiden. Die Summe dieser Entscheidungen spricht dann das Urteil.

Freilich sollte sich niemand moralisch entlastet fühlen. Hinterher ist jeder Boykott billig, vorher hätten wir genauer hinhören müssen. Hätte ich genauer hinhören müssen. Ja, ich war R. Kelly-Fan. Das ist jetzt peinlich. Nur: es hätte mir lange zuvor peinlich sein sollen. Und was heißt das schon im Vergleich zu dem, was andere von ihm erdulden mussten? 

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