Gregory Crewdson ist als Fotograf ein Meister des filmischen Erzählens. Das Kunstmuseum Bonn widmet ihn eine große Retrospektive.
Kunstmuseum BonnGregory Crewdson muss wohl ein Außerirdischer sein

Gregory Crewdsons Aufnahme „Starkfield Lane“ aus der Serie „An Eclipse of Moths“
Copyright: Gregory Crewdson
Als Kind, erzählt Gregory Crewdson, habe er auf dem Boden seines Zimmers gelegen und die Gespräche seines Vaters im Raum darunter belauscht. Das machen wohl viele Kinder, aber nicht alle Väter sind Psychoanalytiker und holen sich die Patienten ins eigene Heim. Welche Geheimnisse der kleine Gregory damals erfuhr, weiß der mittlerweile 63-jährige Starfotograf wohl selbst nicht mehr. Aber die Vorstellung, dass unter der Oberfläche ungesagte Dinge lauern, ließ ihn nicht mehr los.
Anders als seinem Vater geht es Gregory Crewdson allerdings gerade nicht darum, das in Träumen, Ängsten und Obsessionen vergrabene Unbewusste ans Licht zu bringen. Er will es vielmehr dort halten, wo es am wirkungsvollsten ist – unter der Oberfläche. Auf seinen mit teils hollywoodeskem Aufwand inszenierten Großformaten bleibt die Welt bedeutungs- und unheilschwanger in einem Zwischenreich gefangen. Die Menschen starren ins Leere, wie hypnotisiert von etwas, das sich gerade vor ihren Augen ereignet hat oder sich bereits erahnen lässt. Aber wir sehen niemals, was sie sehen. Für diese Kunst der Andeutung erfand Crewdson sogar ein eigenes Genre: den Einzelbild-Film.
In Crewdsons Bildern scheint eine Filmhandlung eingefroren zu sein
Seit Mitte der Achtziger Jahre hat Crewdson elf Serien produziert, von denen jetzt neun in Auszügen in der großen, ihm gewidmeten Retrospektive im Bonner Kunstmuseum zu sehen sind. Jede Serie besteht aus eigenständigen, aufwendig arrangierten Tableaus, in denen jeweils eine Filmhandlung eingefroren scheint: Eine Frau steht im Unterhemd vor der geöffneten Tür einer Holzhütte im Wald; ein Junge streckt den Arm in den Untergrund eines Hauses; mehrere Polizisten und Feuerwehrmänner blicken ratlos auf ein quer über der Straße abgestelltes Auto, aus dessen Motorraum die Flammen schlagen.
Mitunter scheint Crewdson, der sich von Hollywoodlegenden wie Alfred Hitchcock, Steven Spielberg und David Lynch inspirieren ließ, seine Vorbilder direkt zu zitieren. Dann blickt ein Junge in den Lichtkegel, der aus einem geheimnisvollen Nachthimmel auf ihn herabfällt, ein leuchtender Gartenschuppen zieht ein Kind in seinen Bann oder eine mitten im Wald abgelegte Matratze gibt einem Ermittler Rätsel auf. Gerade in seiner 1991 begonnenen Serie „Natural Wonder“ eiferte Crewdson offensichtlich dem Lynch‘schen Bilderkosmos nach. Wie in „Blue Velvet“ versenkt sich die Kamera in die Welt der Kleinstadt-Vorgärten und findet dort zwar kein abgeschnittenes menschliches Ohr, aber immerhin Vögel und Schmetterlinge, die über Tierkadavern kreisen.

„Untitled (Beer Dream)“ von Gregory Crewdson ist derzeit im Kunstmuseum Bonn zu sehen
Copyright: Gregory Crewdson
In diesem Frühwerk sind Crewdsons Bilder gelegentlich noch surreal, etwa wenn ein Vogelelternpaar seine Eier im Kreis arrangiert, wie bei einem heidnischen Ritual. In der folgenden Serie „Hover“ wechselte Crewdson von Farbe zu Schwarzweiß und von eher intimen Aufnahmen zu weitläufigen, von einem Kran aus fotografierten Tableaus, mit denen er die sprichwörtliche Vorstadtidylle in Bühnenbilder seltsamer Vor- und Unfälle verwandelte. Ein Mann steht einem Bären gegenüber, der Mülltonen durchwühlt, ein anderer rollt zum Missfallen der Polizei Rasenstücke auf die Straße, und irgendetwas oder irgendjemand hat einen Kreis in einen akkurat gestutzten Rasen gebrannt.
„Man wird in seinen Zwanzigern erwachsen“, so Crewdson, „und wiederholt die Themen dieser Jahre sein ganzes Leben lang.“ Tatsächlich hatte er seine Leitmotive bereits versammelt, bevor er 1998 mit der Serie „Twilight“ zu seinem Stil fand: das unlöschbare Feuer, die erstarrten Menschen, die leeren Blicke, das unwirkliche Licht, der Kreis als Metapher des Wiederholungszwangs. Bei Crewdson stehen Ampeln grundsätzlich auf Gelb, bemerkte dazu Stephan Berg, Direktor des Kunstmuseums. Er inszeniere eine Welt des Übergangs, und das in ebenso kunstvoller wie obsessiver Manier.
Die Lichtregie hat Crewdson bei Außerirdischen erlernt
Crewdson ist weniger Fotograf als Regisseur hyperrealistischer Bühnenbilder. Seit „Twilight“ arbeitet er mit Filmteams und einem „Director of Photography“, an seiner ehrgeizigsten, an acht „Drehorten“ entstandenen Serie „Beneath the Roses“ waren mehr als 200 Mitarbeiter beteiligt. Meist entwirft Crewdson ein Storyboard, in dem das Wesentliche unbeschrieben bleibt; das wichtigste Stilmittel, mit dem er die inszenierte Wirklichkeit seiner Bilder ins Irreale kippen lässt, ist das Licht. Es scheint grundsätzlich aus dem Nichts zu kommen. Größtenteils leuchtet es so fahl wie der Mond, oder es ist so bleich wie eine Leiche. Es scheint die Menschen anzuziehen wie Motten und zugleich erstarren zu lassen; die Lichtregie hat Crewdson bei Außerirdischen erlernt.
Am weitesten trieb Crewdson seinen Hyperrealismus bei „Beneath the Roses“, der Serie, die eigentlich als Film geplant war. Allerdings habe er schnell bemerkt, so Crewdson, dass er kein Filmemacher sei. Stattdessen ließ er seine Tableaus aus jeweils 40 bis 50 Einzelaufnahmen zusammensetzen, um die Szenenbilder bis in den hintersten Winkel oder bis zum letzten Haus der Straße scharfzustellen. Auf diese Weise schafft Crewdson weitere Ebenen flüchtiger Bedeutung oder er lenkt unseren Blick auf das verschmierte Blut, das von einem besonders rosigen Braten über den Tellerrand rinnt. Natürlich fragt man sich dann, warum zwei Stühle am Esstisch leer geblieben sind und die Anwesenden wirken, als hätten sie einen Geist gesehen - oder gemeinsam einen erzeugt.
In den frühen Serien blitzte mitunter noch die Komödie im Unheimlichen auf, später mehrten sich die Bilder privater oder kollektiver Katastrophen. Und da Crewdson seine Motive ausschließlich in ländlichen Regionen der USA findet, ist sein Thema vielleicht konkreter als es den Anschein hat: der soziale Niedergang im Kernland seiner Heimat. „An Eclipse of Moths“ aus den Jahren 2018/19 ist in dieser Hinsicht beinahe überdeutlich. In dieser Serie versetzt Crewdson seine üblichen Motive in verfallene Straßenzüge und triste Hinterhöfe – die Katastrophenlandschaft der postindustriellen USA. Hier haben die Menschen gute Gründe, ins Leere zu starren, und sei es nur, um den Verfall der eigenen Gemeinschaft nicht zu sehen. Polizei und Feuerwehr, sonst verlässliches Personal in Crewdsons Inszenierungen, bleiben in der Kulisse. Die drei Jungs auf Fahrrädern, die vor dem Hintergrund eines trostlosen Ortsrands einen brennenden LKW-Container betrachten, wissen wohl, dass niemand kommen wird, um statt zu löschen ratlos in die Flammen zu schauen.
„Gregory Crewdson: Retrospektive“, Kunstmuseum Bonn, Museumsmeile, Di.-So. 11-18 Uhr, Mi. 11-19 Uhr, 9. Oktober 2025 bis 22. Februar 2026. Der Katalog kostet 35 Euro.